Die zweite Prüfung

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„Du hast doch gesagt, du hättest das Eierrätsel schon gelöst!", entrüstete sich Hermine.
„Sprich doch leiser!", erwiderte Harry ärgerlich. „Ich muss es nur noch ein wenig – ausfeilen, verstehst du?"
„Ausfeilen nennst du das?", fragte Lucy und hob eine Braue.
Sie hatten sich im Zauberkunstunterricht zu viert an einen Tisch in der hinteren Reihe gesetzt. Heute war das Gegenteil des Aufrufezaubers dran – der Verscheuchezauber. Professor Flitwick, wohl wissend, was für hässliche Unfälle passieren konnten, wenn ständig irgendwelche Gegenstände durch das Zimmer flogen, hatte jedem Schüler einen Stapel Kissen zum Üben gegeben. Der Gedanke dahinter war, dass niemand verletzt würde, wenn die Kissen ihr Ziel verfehlten. Als Idee sehr gut, taugte er in der Praxis nicht allzu viel. Neville peilte so schlecht, dass er versehentlich viel Schwereres durch die Luft fliegen ließ – zum Beispiel Professor Flitwick.
„Vergiss doch einfach mal für 'ne Weile dieses Ei!", zischte Harry, während Professor Flitwick mit einem Ausdruck stummen Leidens auf dem Gesicht an ihnen vorbeischwebte und auf einem großen Schrank landete. „Ich will dir doch nur diese Geschichte von Snape und Moody erzählen..."
Dieser Unterricht bot die beste Deckung für ein vertrauliches Gespräch, da all ihre Mitschüler viel zu viel Spaß hatten, um groß auf die vier zu achten. Harry erzählte nun schon seit einer halben Stunde in geflüsterten Fortsetzungen von seinen Abenteuern in der vorigen Nacht.
„Snape sagte, auch Moody hätte sein Büro durchsucht?", wisperte Ron, die Augen vor Neugier flackernd, während er gleichzeitig mit einem Schwung des Zauberstabs ein Kissen fortjagte (es sauste durch die Luft und schlug Parvati den Hut vom Kopf).
„Was glaubst du ... ist Moody hier in der Schule, um nicht nur Karkaroff, sondern auch Snape im Auge zu behalten?"
„Keine Ahnung, ob Dumbledore ihn darum gebeten hat, auf jeden Fall tut er genau das", sagte Harry und wedelte achtlos mit dem Zauberstab, woraufhin sein Kissen eine verkorkste Bauchlandung auf dem Boden hinlegte. „Moody meinte, Dumbledore behalte Snape nur hier, weil er ihm eine zweite Chance oder so was geben will..."
„Was?", sagte Ron und riss die Augen auf. Sein nächstes Kissen trudelte hoch in die Luft, prallte gegen den Kronleuchter und schlug klatschend auf Professor Flitwicks Tisch auf.
„Harry ... vielleicht glaubt Moody, Snape habe deinen Namen in den Feuerkelch geworfen!"
„Ach, Ron", sagte Hermine und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wir haben schon einmal gedacht, Snape wolle Harry umbringen, und dann stellte sich raus, dass er ihm das Leben gerettet hat, weißt du noch?"
Lucy biss die Zähne zusammen. Sie wusste genau was Moody mit der zweiten Chance Dumbledores meinte, wusste sie schließlich als Einzige der Vieren, dass Snape einst ein Todesser gewesen war. Und obwohl sie immer noch zerstritten waren weil er ihren Paten zu unrecht zum Tode verurteilen wollte kam sie nicht umhin ihn immer noch in Schutz nehmen zu wollen. Sie verscheuchte genervt ein Kissen, es flog quer durchs Zimmer und landete in der Kiste, genau da, wo es sollte.
Harry sah Hermine nachdenklich an ... Lucy wusste worüber er nachdachte. Es stimmte, Snape hatte ihm einmal das Leben gerettet, doch das Merkwürdige war, dass Snape ihn entschieden hasste, genauso wie er Harrys Vater gehasst hatte, als sie zusammen auf der Schule waren. Snape bereitete es Genuss, Harry Punkte abzuziehen, und er ließ gewiss nie eine Gelegenheit aus, ihm Strafen zu verpassen oder sogar vorzuschlagen, er solle von der Schule verwiesen werden.
„Mir ist egal, was Moody sagt", fuhr Hermine fort, „Dumbledore ist nicht dumm. Er hatte Recht, Hagrid und Professor Lupin zu vertrauen, auch wenn eine Menge Leute ihnen keine Arbeit gegeben hätten. Warum sollte er sich dann in Snape täuschen, selbst wenn Snape ein wenig..."
„...bösartig ist", ergänzte Ron schlagartig. „Nun hör mal, Hermine, warum sollte dann ein Schwarzmagierfänger sein Büro durchsuchen?"
„Warum hat Mr Crouch so getan, als sei er krank?", fragte Hermine, ohne auf Ron einzugehen. „Schon ein wenig komisch, oder, dass er es nicht schafft, zum Weihnachtsball zu kommen, aber mitten in der Nacht hier rumschleichen kann, wie es ihm passt?"
„Du kannst Crouch einfach nicht leiden, und zwar wegen dieser Winky, seiner Elfe", sagte Ron und ließ ein Kissen gegen das Fenster klatschen.
„Und du hast dir in den Kopf gesetzt, dass Snape irgendwas ausheckt", sagte Hermine und ließ ihr Kissen tadellos in die Kiste fliegen.
„Ich will nur wissen, was Snape mit seiner ersten Chance angefangen hat, wenn das jetzt seine zweite ist", sagte Harry grimmig, und zu seiner größten Überraschung flog sein Kissen schnurgerade durchs Zimmer und landete auf dem Hermines.
„Es ist nichts weiter", sagte Lucy und spürte die Blicke aller auf sich. Seufzend schüttelte sie den Kopf.
„Severus ist vertrauenswürdig. Wann versteht ihr das endlich?"
„Wie kannst du das nach dem letzten Jahr immer noch denken?", fragte Harry. „Ihr sprecht seit über einem halben Jahr kein Wort mehr miteinander!"
Lucy schüttelte müde den Kopf.
„Snape ist vertrauenswürdig", wiederholte sie.
Harry und Lucy folgten dennoch dem Wunsch von Sirius, über alle merkwürdigen Geschehnisse in Hogwarts unterrichtet zu werden, und schickten ihm noch in dieser Nacht einen Brief per Waldkauz, in dem Harry ihm alles über Mr Crouchs Einbruch in Snapes Büro und Moodys und Snapes Zusammenstoß berichtete. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit ernsthaft dem dringendsten Problem zu, vor dem sie standen. Wie sollte Harry am vierundzwanzigsten Februar eine Stunde lang unter Wasser überleben? Ron gefiel die Idee ganz gut, noch einmal den Aufrufezauber zu benutzen – Harry hatte ihm erklärt, dass es in der Muggelwelt Atmungsgeräte gab, und Ron wollte partout nicht einsehen, warum Harry nicht ein solches Gerät aus der nächsten Muggelstadt zu sich rufen sollte. Hermine machte diesen Plan zunichte, indem sie verkündete, dass Harry wohl kaum innerhalb der gesetzten Zeit von einer Stunde lernen würde, mit einer Taucherlunge umzugehen, und selbst dann würde er sofort disqualifiziert, weil er den Internationalen Kodex zur Geheimhaltung der Magie gebrochen hätte. Es war einfach unsinnig zu hoffen, dass kein Muggel eine Taucherlunge bemerken würde, die über das Land auf Hogwarts zuflog.
„Die beste Lösung wäre natürlich, wenn du dich in ein U-Boot oder so was verwandeln könntest", sagte sie. „Wenn wir nur schon Verwandlung für Menschen gehabt hätten! Aber ich glaub nicht, dass wir vor der sechsten Klasse damit anfangen, und es kann ganz übel ausgehen, wenn du nicht genau weißt, was du tust..."
„Allerdings, ich hab keine Lust, mit einem Sehrohr im Kopf durch die Gegend zu laufen", sagte Harry. „Vielleicht sollte ich einfach jemanden direkt vor Moodys Augen angreifen, dann erledigt er es sicher für mich..."
„Er lässt dich nicht selbst wählen, in was er dich verwandelt", entgegnete Hermine nüchtern. „Nein, ich denke, die beste Möglichkeit wäre irgendein Zauber."
Und so vergruben die vier sich abermals in der Bibliothek, auf der Suche nach einem Zauber, der Harry helfen würde, ohne Sauerstoff zu überleben, auch wenn alle - bis auf Hermine natürlich - allmählich das Gefühl hatten, für den Rest ihres Lebens von den staubigen Bänden genug zu haben. Doch obwohl die vier ihre Mittagspausen, die Abende und die Wochenenden mit der Suche verbrachten – und obwohl Harry Professor McGonagall um eine Bescheinigung bat, damit er auch die Verbotene Abteilung benutzen durfte, und sogar die reizbare, geierartige Bibliothekarin Madam Pince um Hilfe fragte –, sie fanden trotz allem nichts, was es Harry ermöglicht hätte, eine Stunde unter Wasser zu verbringen und danach seine Geschichte auch noch erzählen zu können. Anflüge von Panik, wie Harry sie schon kannte, begannen ihn nun wieder zu quälen, und wieder einmal fiel es ihm schwer, im Unterricht seine Gedanken beisammenzuhalten. Der See, der für Harry immer wie selbstverständlich zum Schlossgelände gehört hatte, zog fortwährend seinen Blick an, wenn er in der Nähe eines Klassenzimmerfensters saß, diese große, eisengraue Masse kalten Wassers, dessen dunkle und eisige Tiefen ihm allmählich so fern schienen wie der Mond. Genau wie damals, bevor er es mit dem Hornschwanz aufnehmen musste, glitt die Zeit davon, als ob jemand die Uhren verhext hätte und sie jetzt besonders schnell liefen. Noch eine Woche war es bis zum vierundzwanzigsten Februar... dann waren es fünf Tage... noch drei Tage... Noch zwei Tage, und Harry verlor wieder einmal den Appetit.
„Du musst dich entspannen", murmelte Lucy als er ihr von seinem Gefühlschaos berichtete, „sonst wird es sowieso nichts. Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden werden."
Das einzig Gute beim Frühstück am Montag war die Rückkehr des Waldkauzes, den sie Sirius geschickt hatten. Harry nahm ihm das Pergament vom Bein, glättete es und hatte den kürzesten Brief vor Augen, den Sirius ihm je geschrieben hatte.

Licht oder Dunkelheit - Die Geschichte der Potter Zwillinge #4 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt