So hatte Martin Tom noch nie gesehen. Kein Wunder, in London war es gefühlte 30 Grad kälter als in Griechenland. In seiner dicken, braunen Lederjacke, mit Jeans, Schal und seit drei Monaten nicht mehr geschnittenen Haaren sah er so aus wie er selbst und die Mehrheit aller 16-Jährigen: Gammel-Look.
Ganz entgegen den zurückhaltenden Sitten ihres Gastlandes umarmten sie sich und küssten sich auf beide Wangen. Martin hatte die Wartezeit genutzt, um den schnellsten Weg in die Stadt herauszufinden. Im Bus versuchten sie, Licht ins Dunkel zu bringen:
„Tom, hast Du eine Idee, was auf Daves Rückflug passiert ist?"
„Nein. Es muss was mit unserer Gruppe zu tun haben, aber er macht ja nicht mal eine Andeutung. Er hat Angst, so viel steht fest. Sonst hätte er uns nicht gebeten herzukommen."
„Vielleicht ist die griechische Geheimpolizei näher an uns dran, als wir denken. Zum Beispiel, weil doch mehr Leute über uns Bescheid wissen. Aber wieso sollten die ihn im Flugzeug ansprechen? Das hätten sie in Athen leichter haben können."
Von London bekamen sie so gut wie nichts mit, so vertieft waren sie in ihr Gespräch, aber zu einem Ergebnis kamen sie nicht. Martin beendete die Kaffeesatzleserei:
„Übrigens noch mal vielen Dank für den Tipp mit der Konfirmationskasse. Meine Eltern haben zwar gemault, dass ich das Geld für den Flug vom Sparbuch nehme, aber ich habe ihnen versprochen, es wieder einzuzahlen. Autowaschen bringt ganz schön viel Geld, hätte ich gar nicht gedacht. Sag mal, wieso hast Du Deine Schultasche dabei?"
„Ich hatte keine Lust, Gepäck aufzugeben und stundenlang zu warten. Die Sachen für fünf Tage passen doch locker da rein."
In der Regent Street wurden sie vom Strom der Fußgängermassen mitgerissen, die sich zum Piccadilly Circus wälzten. Martin machte ein Foto von dem berühmten Platz.
„Lass uns mal zum Brunnen rübergehen," schlug Tom vor. Die abenteuerlich aussehenden Leute, die das Denkmal umlagerten, interessierten ihn, doch die Hippies entpuppten sich als Schulklasse aus Hamburg. Enttäuscht beschlossen sie, etwas zu essen. In einer Gasse in Soho fanden sie eine Snackbar, die auch am Nachmittag ein englisches Frühstück anbot, das sie stilecht mit einer großen Tasse Tee verzehrten. Ganz in der Nähe, am Leicester Place, kamen sie am Londoner Büro des deutschen Fernsehsenders vorbei, wo ihre Gastgeberin arbeitete.
„Find ich klasse, dass sie uns einfach so die Wohnung überlässt," meinte Martin.
„Na ja, wir kommen halt aus einem Dorf, und ich habe auch ein paar Sachen für sie dabei, allein ein Kilo Lakritz."
Sie machten noch einen Abstecher zum Trafalgar Square und fuhren dann zu Gerdas Wohnung in Hampstead Heath. Im Erdgeschoss des fünfstöckigen, alten Hauses an der Ecke zur Hauptstraße war ein Gemüseladen. Durch ein schwarzes Holztor in einer Ziegelmauer an der Seitenstraße, Hammer Hill, betraten sie einen kleinen Innenhof. Es gab vier Klingelschilder, alle mit deutschen Namen. Sie läuteten bei Becker und stiegen die steile, mit einem abgeschabten Teppich belegte Treppe hoch.
„Hey, da seid Ihr ja. Ich bin Hans, der Assi."
Der große, dünne Mann mit schulterlangen, blonden Haaren schüttelte ihnen die Hand. Seine blau-grünen Augen funkelten fröhlich. Tom schätzte ihn auf 25. Sie stellten sich vor und folgten ihm nach oben. Er schloss Gerdas Tür auf und zeigte ihnen die Wohnung, wo sie sich sofort zuhause fühlten. Alles war mit Teppichen ausgelegt, im Wohnzimmer standen zwei riesige Sofas. Der Kamin war zwar nur noch Zierde, trug aber sehr zu der gemütlichen Atmosphäre bei. Auf einer Anrichte lag eine Nachricht für Tom. Der wichtigste Punkt lautete, sie müssten am Sonntag das Wasser von Stanley und Livingstone wechseln, zwei Goldfischen, die in einer Glaskugel trübsinnig herumschwammen.
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Die richtigen Leute Band 3: Der schönste Ort auf Gottes Erde
Fiction HistoriqueDie abenteuerliche Reise geht weiter. Nachdem Dave sich plötzlich einem Erpressungsversuch durch die IRA ausgesetzt sieht, reisen Tom und Martin nach London, um ihm bei der Problemlösung zu helfen. Dabei lernen sie weitere „richtige Leute" kennen, d...