Kapitel Neunundzwanzig

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Mik

Es dauert nur einen Sekundenbruchteil und fühlt sich danach doch so an, als hätte es mich jahrelang gequält. Vielleicht liegen diese Qualen aber auch noch vor mir.

Meine Finger krampfen sich schmerzhaft um den eiskalten Dolch. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo in meinem Exil ich ihn gefunden habe. Ich kann nur daran denken, wie kalt er ist. Ich spüre Nias warmes Blut meine Hand hinabgleiten, während mein eigenes zu Eis erstarrt. In diesem Moment sind ich und der Dolch eins. Was habe ich nur getan? Und was hat Nia da gerade getan?

Mein Magen krümmt sich unter all dem Schmerz, von dem ich dachte, ich hätte ihn ablegen können. Vermutlich konnte ich das, denn auf Nia bin ich nicht mehr sauer. Nein, er hat mir erlaubt den Schmerz einzutauschen gegen Trauer. Etwas, von dem er scheinbar hoffte, es wäre leichter zu ertragen als meine geballte Wut. Jetzt ist auch diese verschwunden und mit ihr die Flammen, wie ich nun bemerke. Um mich herum verändert sich die Umgebung.

Das Feuer erlischt, der Raum färbt sich wieder silbern, Schatten treten aus den Ecken des Saals hervor. Doch all das ist nicht das Seltsamste, was ich wahrnehme. Was meine Gedanken nicht verarbeiten können, ist ein verpixeltes Flackern des riesigen Mondes über uns. Es ist, als wäre er nichts weiter als eine Glühbirne, dessen Sicherung instabil ist. Dabei ist ein mechanisches Summen zu hören. Im nächsten Moment wird der Himmel mitsamt Vollmond schwarz, doch das Licht im Gebäude verändert sich nicht.

Es ist nicht real. In dem Moment, in dem ich es vollends realisiere, beginnt mein Herz zu schlagen wie ein Presslufthammer.

Eine Frauenstimme ertönt: "Mik"

Ich bewege mich nicht, wage es nicht einmal mich nach einem Lautsprecher umzusehen. Ich weiß, dass es keinen gibt.

Diese Frau kann nicht wirklich hier sein.

Mein Verstand fleht mich an logisch nachzudenken. Sie sitzt möglicherweise in irgendeinem Labor mit Samuel Yuro. Sie beobachtet Nia und mich durch einen Bildschirm, eine Simulation. Irgendetwas, dass Sinn ergeben könnte. Etwas, das mich begreifen lassen kann, was hier los ist.

Doch es ist vergeblich, mein Hirn weigert sich. Ich blicke auf Nia hinab. Ist er womöglich gar nicht wirklich tot?

Auf einmal ist da wieder die Stimme der Spielmacher: "Simulation Nummer siebenunddreißig beendet. Ergebnis unzureichend. Variablen E5, C2, A1 und A7 gelöscht. Testperson Clasher Mik gescheitert. Reset wird eingeleitet."

"Was?" Hauche ich aus. Bewegen kann ich mich noch immer nicht.

Ich stehe einfach nur da. Mit Nias Blut an den Händen und seinem letzten Atemzug auf den Lippen.

"Mik?" Die Frau wirkt genervt. Sie klingt nicht so bedrohlich wie die seltsame Roboterstimme, trotzdem macht sie mir mehr Angst. Sie ist echt. Ein realer Mensch und trotzdem beendet sie das hier nicht.

Ich höre, wie winzig kleine Objekte durch die Luft sausen, als hätte jemand einen Federball auf mich zugespielt. Im nächsten Moment stöhne ich unter Schmerz auf, als mich ein Pfeil in den Hals trifft. Der Schock veranlasst mich dazu Nia loslassen.

Bevor ich wirklich in Panik ausbrechen kann, verschwimmt mein Sichtfeld und ich weiß, dass sie mich betäubt haben. Aber wer bloß?

"Entspann dich wieder, Mik. Das war bisher dein schnellster Durchlauf. Nur drei Stunden und achtundvierzig Minuten," ihre Stimme verdüstert sich im nächsten Satz: "Aber wir müssen das noch einmal tun. Hörst du, Mik?"

Ich höre nichts mehr. Ich falle. Erst breche ich auf dem Podium zusammen, doch mein Geist fällt viel weiter. Ich verliere den Halt meines Körpers, weiß nicht einmal mehr, ob meine Augen geschlossen oder geöffnet sind. Ich sehe weißes, grelles Licht.

Und dann weiß ich es. Im nächsten Moment weiß ich alles. Das Experiment. Der Plan einen Gehirnchip zu entwickeln, des es erlaubt einem Menschen alles Böse zu nehmen. Die Simulationen die nötig sind, um Daten zu sammeln. Meine Freunde und ich, wie wir entführt oder bestochen werden, um daran teilzunehmen. Die Welt in der ich lebe. Eine Welt mit Cyborgs und verrückten Wissenschaftlern und Armut. So unfassbar viel Leid und Armut.

In der einen Sekunde weiß ich all diese Dinge, doch bevor ich sie begreifen oder abspeichern kann, werde ich davon weggeschleudert. Hätte ich schreien können, hätte ich es getan. Nichts tut mehr weh als ein Geist, dessen gesamte Existenz aus ihm heraus gezehrt wird. Wie ein erzwungenes, schnelles Vergessen.

Ich möchte nicht Aufwachen und dann möchte ich gar nichts mehr. Trotzdem öffne ich irgendwann die Augen.

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Zuerst bin ich ein einziger Schmerz. Nichts anderes zählt als Schmerz und Kälte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schreie oder ob dieser Ton das Echo einer unklaren Vergangenheit ist. Mein Kopf ist leer, als hätte es ihn noch nie vorher gegeben. Es ist dunkel um mich herum, aber ich weiß nicht, ob meine Augen geschlossen sind oder mein Geist. Vielleicht ist es die Sonne, die ein Licht durch meine Anästhesie brennt, aber ich kann jetzt sehen.

Atme ich überhaupt? Plötzlich spüre ich die stachelige Oberfläche unter meinem Rücken. Meine Augen suchen die Umgebung ab, auch wenn noch kein anderer Muskel meines Körpers lebendig geworden ist. Es ist Sand. Ich liege an einem Strand gefährlich nah am Meer. Die salzige Luft drückt in meine Lunge und zwingt mich, endlich meinen ersten Atemzug zu nehmen, der sich als laut und entlastend herausstellt. Ich kann mich nicht an meinen letzten erinnern. Ich kann mich an nichts erinnern.

Wo bin ich?

Nur ein einziges Wort sticht aus der Leere hervor. Nia.

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Nia

"Clasher reset complete." "Klon reset complete."

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Welche Fragen beschäftigen euch jetzt noch? Vielen vielen Dank fürs Dranbleiben und Lesen :)

Insta: @soul_gazing

WarclashWo Geschichten leben. Entdecke jetzt