Fifty-Two

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Raya

Einmal hatte ich in der Schule bei einem Singwettbewerb mitgemacht, und obwohl ich nicht wirklich gut singen konnte, zwang ich mich trotzdem dazu, mich auf der Liste einzutragen. Als ich dann auf der Bühne stand, mutterseelenallein, und dieses Riesenmikrofon in meiner kleinen Hand hielt, bekam ich so etwas wie Lampenfieber. Alle Scheinwerfer lagen auf mir, alle Blicke waren auf mich gerichtet, und anstatt davon irgendwie angespornt zu werden, wuchs in mir diese innere Panick. Die Musik setzte ein und als der Moment kam, in dem ich lossingen sollte, stand ich mit offenem Mund da und brachte keinen einzigen Ton heraus. Während mich also alle anstarrten und darauf warteten, dass ich etwas tat - irgendetwas -, konnte ich mich kaum bewegen. Ich war wie festgefroren und schaffte es damit noch nicht einmal, mich hinter den Vorhang zu schieben. Ich ertrug volle drei einhalb Minuten die eisige Stille des Publikums, lediglich die Musik des Liedes, das ich singen wollte, erfüllte den großen Saal mit etwas Leben.

Das war so ziemlich der schrecklichste und peinlichste Moment meines Lebens, von dem ich angenommen hatte, dass ihn nicht, aber auch rein gar nichts toppen könnte. Ich hatte noch nie so große Angst und Panick gefühlt, wie in diesem einen Augenblick. Selbst bei der schrecklichen Nachricht von der Diagnose meines Vaters hatte ich ruhiger reagieren können. Aber jetzt, wo ich zwischen all den vielen Menschen stand, die einzig und alleine in die Eventhalle wollten, die die Warren Company anlässlich ihrer jährlichen Spendengala gemietet hatten, platzte ich fast vor Nervosität und inner Aufregung.

Ich hatte niemandem gesagt, wo ich heute war, noch nicht einmal meiner Tante oder Vic. Doch es gab jemandem, vor dem ich meine Geheimnisse nur schlecht verbergen konnte, und das war mein Dad. Ich hatte ihm nicht ausdrücklich von der Spendengala erzählt, was aber auch nicht nötig war. Spätestens als er mich anrief, um mit mir etwas zu plaudern, war für ihn alles glasklar - obwohl ich keinerlei Andeutung gemacht hatte. Er wusste, dass am heutigen Abend die Veranstaltung der Warren Company war, aber er hatte kein Wort darüber verloren.

Ganz ehrlich? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich ihm hätte sagen sollen, weil ich selbst noch nicht einmal wusste, wieso ich auf diese verdammte Spendengala ging. Letztes Jahr hatte ich immerhin einen trifftigen Grund, ich wollte der Organisation helfen, was im Nachhinein auch nicht wirklich etwas gebracht hatte, jetzt, wo sie wegen Carter nicht mehr existierte. Dieses Jahr war alles anders, ich sollte Carter nie wieder sehen, mit ihm nie wieder sprechen oder auch nur in seiner Nähe sein, weil er mich so tief verletzt hatte. Und doch stand ich hier. In der Riesenmenge von Menschen, die alle hofften, einen kurzen Blick auf das Innere der Halle werfen zu können.

Ich wusste nicht, was mich umgestimmt hatte, hier aufzukreuzen. Da war diese Nachricht von ihm auf meiner Mailbox, die ich unerwarteterweise von ihm erhalten hatte. Seine Worte waren wie Balsam für meine kaputte Seele und ich wünschte mir nichts mehr als das sie auch wahr waren. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als seine Stimme in meinem Kopf.

Mittlerweile waren zwei Monate vergangen, seit ich ihn das letzte mal gesehen, mit ihm gesprochen oder ihn berührt hatte. Zwei Monate, in denen ich hoffte, dass der Schmerz in meiner Brust endlich anfangen würde, kleiner zu werden. Zwei Monate, in denen ich jede Nacht stumm vor mich hingeweint hatte, weil ich Carter so sehr vermisste. Zwei Monate, in denen ich nicht wirklich gelebt hatte. Aber ich hatte Fortschritte gemacht. Wenn ich den Schmerz fühlte, dann lenkte ich mich so gut es ging ab. Wenn ich weinte, dann tat ich es an der Brust meines Vaters. Und wenn ich ihn vermisste, dann suchte ich Trost bei meiner Tante.

Es war nicht viel, aber es war ein Anfang. Ein Anfang, ohne Carter weiterzumachen. Und jetzt, wo ich es endlich geschafft hatte, alles langsam zu verarbeiten, tauchte diese Nachricht auf meiner Mailbox oder die Einladung auf die Spendengala auf und warf mich damit zurück an den Anfang.
Vielleicht hätte ich die Nachricht einfach löschen sollen, vielleicht hätte ich die Karte zerreißen sollen, dann wäre mir diese ganze innere Unruhe erspart geblieben. Aber ich konnte einfach nicht. Seine Nachricht hatte ich mir so oft danach angehört, dass ich sie bereits auswendig kannte, und die Einladung hatte ich so sehr studiert, dass ich sie blind abschreiben könnte. In den letzten zwei Wochen dachte ich ununterbrochen daran, was wohl wäre, wenn ich ihm diesen Gefallen tun und auf der Gala auftauchen würde. Ich hatte keine Ahnung, wieso er es tat, immerhin hatte ich ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass ich in Ruhe gelassen werden möchte. Das hatte auch zwei Monate geklappt, bis ich eines Tages diese Karte in meinem Briefkasten fand.

The Warren-Deal | (Broken Billionaires, #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt