Alte Jungdemokraten

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Ich hab den jetzt seit Ewigkeiten in den Drafts und weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr was ich getrunken hab, um darauf zu kommen.
*
Selbstbewusst schritt Wolfgang Kubicki über die Präsidialebene. Er würde jetzt nach Hause fahren, einen guten Wein öffnen und dann mal sehen was der Abend so bringen würde.

Die letzten Tage waren anstrengend gewesen. Nichtmal mehr flirten durfte man heutzutage! Eigentlich hatte er doch gar nichts getan. Er hatte lediglich eine alte Geschichte erzählt. Normalerweise sagte Wolfgang sowas ja nicht laut, aber vor 20 Jahren war die Welt besser gewesen, entspannter.

Heutzutage, da unterstellte man ihm als sogenannten Cis-Mann schon Sexismus, Homophobie und was wusste er nicht alles, sobald er zu laut atmete. In den 70ern wäre das nicht denkbar gewesen.

Wolfgang rief den Aufzug und grinste erfreut, als er feststellte, wer bereits darin stand. „Claudia! Die schönste Blume der Bündnis-Grünen!", begrüßte er seine ehemalige Präsidiumskollegin und stellte sich neben sie. Claudia verdrehte die Augen. „Ach Wolfgang, halt die Klappe!"

Kubicki grinste noch breiter. „Mein Glück ist wohl, dass du grade keinen Ehemann zur Hand hast, der sich künstlich aufregen könnte, oder?" Bei Claudia hatte er wenig Angst, dass ein flapsiger Spruch zur Katastrophe führen würde. Die beiden kannten sich schon so lange, da würde ein kleiner Scherz nicht weh tun.

„Oh Wolfgang, du hast ja auch noch nie ernsthaft mit mir geflirtet", sagte Claudia. „Ich hab' mit dir geflirtet! Nicht in den letzten 40 Jahren, aber ich habe geflirtet", entgegnete Wolfgang. „Deine Definition von Flirt ist allerdings auch... gewöhnungsbedürftig", murmelte die Grüne.

Der Bundestagsvizepräsident verdrehte die Augen. War ja klar, dass Claudia auch diese woke-Feministen-Schiene fuhr! „Ich weiß nicht was immer alle haben!", platzte er heraus. „Jahrelang hat sich niemand beschwert! Nie! Erst in den letzten paar Jahren darf man einer schönen Frau nichtmal mehr sagen, dass sie schön ist ohne gecancelt zu werden. Die Jugend ist so verdammt verweichlicht! Neulich habe ich einen Mann mit Nagellack gesehen! Nagellack!"

Claudia seufzte. Oh Mann, Wolfgang würde sich wohl nie ändern. Dabei war er eigentlich ein netter Kerl gewesen! Als sie jung waren zumindest. Aber das waren andere Zeiten gewesen. Claudia besah sich Wolfgangs Profil genauer und meinte irgendwo zwischen den weißen Bartstoppeln den charismatischen jungen Mann von früher zu sehen. Wolfgang drehte den Kopf und lächelte sie an. „Was ist, Claudia?", fragte er und holte damit eine Erinnerung hervor, an die Claudia Roth seit Jahren nicht gedacht hatte.

1975

„Was ist, Claudia?", fragte Wolfgang und zwinkerte der 20-jährigen zu. Die beiden saßen mit anderen Mitgliedern des DJD in einer Bar in Dortmund, wo Claudia vor kurzem einen neuen Job als Dramaturgin begonnen hatte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Wolfgang anstarrte.

Wolfgang Kubicki war das Klischee eines Jurastudenten. Immer adrett gekleidet, selbstbewusst und ja, auch ein bisschen arrogant. Man merkte, dass er sehr von sich überzeugt und Zurückhaltung nicht seine Stärke war. Und irgendwie machte ihn das interessant. Vielleicht weil Claudia bis zu einem gewissen Grad auch so tickte. Laut, selbstbewusst, stark.

Der junge Mann rutschte auf der Bank ein Stück zu ihr und nahm einen Schluck Bier. Der Rest der Truppe hatte sich nahezu verabschiedet und nur ein paar andere Jungs standen an einer Dartscheibe, während sich ihre Freundinnen am Tisch neben Claudia und Wolfgang unterhielten. „Ach, ich bin nur ein bisschen müde", sagte Claudia. „Es war eine lange Woche." Wolfgang nickte. „Da sagst du was. Das ist der erste Abend seit einer Ewigkeit, an dem ich mal nicht irgendwie mit Unikram beschäftigt bin und ich kann ihn nichtmal richtig genießen, weil ich so erledigt bin!"

„Vielleicht ist es langsam an der Zeit nach Hause zu gehen", sagte Claudia und warf einen Blick auf Wolfgangs teure Armbanduhr. Er folgt ihrem Blick und nickte. "Du hast Recht. In welche Richtung musst du?" Claudia nannte ihm ihre Straße und er lächelte. "Dann kann ich dich zumindest noch zur Bahn bringen, wenn du willst." Sie nickte. Es war ihr ganz lieb, wenn sie um diese Uhrzeit nicht allein durch die Stadt gehen musste.

Wolfgang bezahlte und gemeinsam verließen sie die Kneipe. Es war eine milde Sommernacht und sobald sie die belebteren Straßen hinter sich gelassen hatten, legte sich eine angenehme Stille über die Stadt. Wolfgang seufzte zufrieden. "Echt schön diese Nacht. Die Sterne strahlen beinahe so hell wie deine Augen." Claudia zog die Augenbrauen hoch. "Kriegst du die Frauen so normalerweise rum?", fragte sie. Er lachte leise und zuckte mit den Schultern. "Den meisten gefällt es, wenn man ihnen sowas sagt."

Claudia schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht wie die meisten." Wolfgang sah wieder gen Himmel und wirkte auf einmal beinahe schüchtern, als er sagte: "Ja, das weiß ich. Und das gefällt mir ziemlich gut." Claudia sagte nichts, sie spürte nur, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Ach, das war doch bescheuert! Von diesem Gesäusel sollte sie sich nicht geschmeichelt fühlen.

"Und mir gefällt es, wenn du mal nicht so ein Aufschneider bist." Wolfgang blieb stehen und grinste Claudia an. "Ach ja?" Sie nickte. "Du bist viel attraktiver, wenn du so bist wie jetzt. Wenn wir allein sind."

Wolfgangs Grinsen wurde noch breiter. „Du findest mich also attraktiv?" Claudia stöhnte genervt auf, musste jedoch lachen. „Du bist so ein Idiot, Wolfgang Kubicki!" Ja, das war er. Aber ein netter Idiot, der cool war und intelligent. Ein Idiot unter dessen Blick Claudia heiß wurde.

Plötzlich spürte sie Wolfgangs Hand an ihrem Arm. Claudia sah auf. Auf sein Gesicht war ein fast nervöser Ausdruck getreten. In der Ferne hörte Claudia ein Geräusch. Es war die einfahrende Straßenbahn. Sie musste sich beeilen, wenn sie es rechtzeitig schaffen wollte. „Ich muss gehen", flüsterte sie. Wolfgang sah sie noch immer an. Dann sagte er: „Bleib. Bitte."

Für eine Sekunde dachte Claudia darüber nach. Ein Teil von ihr wollte mit Wolfgang nach Hause gehen, wollte all das tun, was dann wohl geschehen würde, doch ihr Verstand sagte ihr, dass sie das nicht tun sollte. Dass immernoch das Risiko bestand, dass Wolfgang es nicht ernst meinte. Sie sah in seine Augen. Wow... er hatte einfach etwas an sich, das sie schwach werden ließ.

Claudia legte die Hände an Wolfgangs Gesicht und zog ihn zu sich herab. Dann küsste sie ihn. Seine Lippen waren weich, auch wenn seine Bartstoppeln über ihre Wangen rieben. Wolfgang küsste gut und Claudia verstand warum so viele Frauen dem Jurastudenten verfielen. Denn es war schwer nein zu sagen, wenn sein Aftershave sie einhüllte, wenn seine großen Hände über ihren Körper fuhren und seine starken Arme sie festhielten. Claudia drückte Wolfgang von sich weg. „Ich muss gehen", sagte sie atmenlos und ohne auf seine Reaktion zu warten, sprintete Claudia über die Straße zu ihrer Bahn.

*

„Huhu, Claudia?", sagte Wolfgang und wedelte mit der flachen Hand vor Claudias Gesicht herum. Seine Kollegin starrte ins Leere und kurz hatte der Liberale Sorge, dass die Jahre des Kiffens wohl doch einen Schaden bei ihr hinterlassen hatten. Claudia zuckte zusammen, lächelte dann jedoch. „Na, wieder anwesend?", fragte Wolfgang grinsend. „Sorry, ich war in Gedanken", sagte Claudia. „Ich habe an Dortmund gedacht."

Wolfgang schien kurz zu überlegen, dann sah er Claudia verblüfft an. „Dortmund", flüsterte er. „Das muss fast 50 Jahre her sein." Er begann zu Grinsen. „Hast du irgendwann einmal bereut, nach Hause gegangen zu sein?" Claudia lachte und schüttelte den Kopf. „Nein. Das habe ich nicht. Aber ich bereue auch das, was in dieser Nacht passiert ist nicht."

Gemeinsam verließen Claudia und Wolfgang das Gebäude. Die beiden gingen noch einige Meter nebeneinander her, bis der Ältere schließlich stehen blieb. „Ich muss hier lang zum Auto", murmelte er und kratzte sich am Kopf. „Und ich zum Bus", sagte Claudia. Einige Sekunden sahen sie einander an. Die Grüne und der Liberale. Zwei Äste eines Baumes, die aus dem selben Stamm sprossen und doch in zwei völlig unterschiedliche Richtungen gewachsen waren. So unglaublich es schien, Claudia mochte Wolfgang noch immer. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte und so unterschiedlicher Meinung sie auch waren, sie wünschte ihm nur das Beste.

„Bis morgen, Wolfgang", sagte sie leise und drehte sich um. Kubicki sah ihr hinterher, dann rief er: „Hey, Claudia!" Sie drehte sich zu ihm herum.

„We'll always have Dortmund", sagte er und Claudia lächelte.

Hinter den Kulissen - Oneshots aus dem BundestagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt