Kapitel 6

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Joys Zimmertür war geschlossen. Vermutlich schlief sie noch. Leise schloss James die Wohnungstür und schlich in sein Zimmer, um sich etwas Bequemes anzuziehen. Dann kam er zurück und setzte sich mit seiner Zeitung an den Esstisch. Er grinste. Unentwegt. Als hätte man ihm das Grinsen ins Gesicht geklebt. Es war so wunderschön gewesen mit Stefanie. Am liebsten wäre er heute Morgen bei ihr geblieben, aber sie hatte ihrer Schwester versprochen, nach ihrer Nichte zu sehen, sodass die Schwester sich ein wenig ausruhen konnte. Also hatte James sich schweren Herzens verabschiedet. Sie hatten sich verliebt geküsst und er war mit einem Grinsen im Gesicht gegangen. Ein Grinsen, das ihn seither begleitete.

Irgendwann sah James auf die Uhr. Es war schon fast halb elf. Joy schien es heute lange im Bett auszuhalten. Normalerweise war sie keine Langschläferin. Aber vielleicht hatte sie sich auch zu sehr in ihrem Buch verloren und die halbe Nacht durchgelesen. Es wäre nicht das erste Mal.

James machte sich einen Kaffee und setzte sich wieder an den Tisch. Solange Joy nicht da war, konnte er noch etwas für die Uni vorbereiten. Während der Laptop hochfuhr, sah James verträumt aus dem Fenster. Es war ein schöner Tag. Die Sonne schien und der Himmel war strahlend blau – fast so schön blau wie Stefanies Augen. Aber nur fast.

James' Email-Programm kündigte drei neue Nachrichten an. Er öffnete sein Postfach – und erstarrte. Die erste Mail hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie stammte von einem unbekannten Absender und der Betreff brannte sich in sein Herz.

„ICH HABE JOY!"

Schockiert sprang James auf und rannte zu Joys Zimmer. Kurz vor der Tür hielt er inne und versuchte sich zu beherrschen, bevor er das Zimmer seiner Tochter stürmte. Er klopfte sachte, während sein Herz verzweifelt gegen seinen Brustkorb hämmerte.

„Joy, bist du wach?", fragte er zitternd. „Joy?"

Zaghaft öffnete er die Tür.

Was er sah, brachte sein Herz zum Stillstand. Joys Bett war leer! Sie war nicht hier, obwohl ihr Handy auf dem Nachttisch lag. James sackte noch am Türrahmen zusammen. Joy würde das Haus nie ohne Handy verlassen, das hatte sie James nach der Katastrophe vor zehn Monaten versprochen. Während er wie gelähmt auf das leere Bett starrte, hörte die Welt auf, sich zu drehen. Sein Grinsen war verschwunden. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, ehe er voller Grauen wieder an die Mail dachte. Kraftlos zwang er sich, aufzustehen. Es führte kein Weg daran vorbei, er musste diese Mail öffnen.

Mit weichen Knien ging er zurück zum Tisch. Sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, als er angsterfüllt auf den Betreff starrte. Was würde ihn in dieser E-Mail erwarten? Es konnte nur eine weitere Katastrophe bedeuten. Als er mit zitternden Fingern die Nachricht öffnete, wurde ein Bild geladen. Erst erkannte James es nicht genau, doch als es vollständig angezeigt wurde, traf es James wie ein Dolch mitten ins Herz. Ihm blieb die Luft weg, seine Brust zog sich zusammen. Verzweifelt stand er auf und lief vor dem Tisch im Kreis, bis er sich überwinden konnte, noch einen Blick auf das Bild zu werfen.

Der Dolch stach noch einmal zu. Es war Joy! Sie saß gefesselt auf einem Stuhl; Klebeband war um ihren Kopf gewickelt. Eine Träne glänzte auf ihrer linken Wange. Aber das Schlimmste waren ihre Augen! Sie waren erfüllt von Verzweiflung und purem Grauen. Der Blick seiner geliebten Tochter ließ das Blut in James' Adern gefrieren. Er griff sich an sein schmerzendes Herz und sank zurück auf den Stuhl. Minutenlang – vielleicht waren es auch nur Sekunden – starrte er auf den Bildschirm, der solch unvorstellbares Leid offenbarte. Er konnte seinen Blick einfach nicht von dem Bild abwenden. Joy sah ihn so schrecklich verzweifelt an. Alles andere verschwand aus seiner Wahrnehmung.

Doch dann entdeckte er plötzlich den Text unter dem Bild:

„Ich habe eure geliebte Joy. Wenn ihr sie lebend wiederhaben wollt, geht um 13 Uhr auf folgenden Link."

Im Strudel der Zeit - TodgeweihtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt