Kapitel 59

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Bryan versuchte mal wieder, seine schmerzenden Schultern zu kreisen, aber selbst dafür hatte er kaum genug Bewegungsfreiheit. Das Klebeband war erbarmungslos. Es war zum Verzweifeln. Er wusste nicht, wie lange er das noch aushalten konnte. Diese verdammte Reglosigkeit, verbunden mit der unaufhörlichen Anspannung und der Angst um sein Leben. Lockwood hatte mehr als deutlich gemacht, dass er ihn töten würde, wenn es nötig war. Bryan hoffte und betete, dass es nicht so weit kommen würde.

Geschlagen wandte er sich wieder seinen Gedanken zu. Er fragte sich, was für einen Anruf Lockwood erhalten hatte. Der Professor wurde überraschend oft angerufen. War das wirklich seine Freundin Stefanie? War sie in die ganze Sache eingeweiht? Oder war es nur eine Ausrede und Lockwood telefonierte mit jemand ganz anderem? Aber mit wem? Zumindest benutzte er dafür ein Handy, das er extra zu diesem Zweck angeschafft hatte und das die Polizei nicht zurückverfolgen konnte. Wem also hatte er diese Nummer gegeben? Hatte Lockwood einen Komplizen? Wer konnte das sein? Wer hatte ein Interesse daran, Lockwood zu unterstützen? Und wie sah diese Unterstützung von außen aus? Bryan hatte, seit er hier war, niemand anderen gesehen. Der Komplize handelte also von außerhalb.

Bryan beschäftigte sich sehr viel lieber mit der Lösung dieses Rätsels, als an seine eigene Situation zu denken. Die Arbeit lenkte ihn ab und das brauchte er ganz dringend. Wer also war der mysteriöse Anrufer? War Stefanie verrückt genug? Oder einfach verliebt genug, um hinter ihrem Liebhaber zu stehen, egal, was er tat?

Als Bryan Schritte auf der Treppe hörte, hielt er angespannt die Luft an. Lockwood hatte jedes Mal den Effekt auf ihn, wenn er nach einer Weile wieder zu ihm in den Keller kam. Seit der Professor vollkommen durchgeknallt vor ihm erschienen war und ihn aus heiterem Himmel bewusstlos geschlagen hatte, spannte sich jeder von Bryans Muskeln an, wann immer Lockwood näherkam. Er hielt noch die Luft an, als die Schritte schon direkt hinter ihm waren. Erst dann atmete er langsam ein und versuchte, sich Mut einzureden. Alles war in Ordnung. Wieso sollte Lockwood ihn noch einmal verprügeln?

Weil es ihm Spaß macht...

Sofort versuchte er den Gedanken wieder zu verdrängen. Da tauchte Lockwood auch schon vor ihm auf. Bryan schluckte, doch die Boshaftigkeit, die Lockwoods Augen bei den letzten Besuchen dominiert hatte, schien in den Hintergrund gerückt zu sein. An ihre Stelle war etwas anderes getreten, das Bryan nicht genau definieren konnte.

„Hallo Mills", begrüßte Lockwood ihn und Bryan sah unsicher auf, ohne etwas zu entgegnen. „Keine Sorge, ich habe gute Neuigkeiten."

Bryan wagte kaum zu hoffen, dass Lockwood sagen könnte, was er sich so sehr erträumte. Lockwoods Lippen formten sich zu einem schmalen Lächeln. Er sah ihn eine Weile wortlos an, während Bryans Puls sich voll freudiger Erwartung beschleunigte. Dann endlich erlöste Lockwood ihn.

„Es wird Sie freuen, zu hören, dass Hansson meiner Bitte nachgekommen ist."

Bitte, dachte Bryan und schüttelte innerlich den Kopf. Erpressung traf es wohl eher. Das war eine Forderung gewesen, nichts anderes. Doch dann schlug die eigentliche Bedeutung von Lockwoods Worten endlich bei ihm ein und er riss ungewollt die Augen auf. Lockwoods Grinsen wurde breiter.

„Ja, Sie haben richtig gehört. Hansson hat vor aller Welt zugegeben, dass die Polizei schuld ist an Joys Tod. Sie können sich wirklich glücklich schätzen, Mills. Ihr Vorgesetzter kümmert sich um seine Lämmchen. Mehr als um Joy zumindest."

Der letzte Kommentar erstickte Bryans Freude im Keim und traf ihn wie eine Faust ins Gesicht. Lockwood hatte Recht. Bryan freute sich so sehr, dass Hansson Lockwoods Forderung nachgekommen war, aber was hatten sie getan, als Joy in seiner Lage gewesen war? Sie hatten sie ausharren lassen. Hatten sie warten lassen. Niemand hatte versucht, sie früher zu erlösen. Mills senkte traurig den Blick.

Im Strudel der Zeit - TodgeweihtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt