Kapitel 54

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James hatte sich wieder nach oben verkrochen. Seit der Videoaufnahme wollte er Mills nicht mehr unter die Augen treten. Er hatte dem armen Polizisten mehr Angst eingejagt als ihm lieb war. Auch wenn es das Ziel gewesen war, fühlte es sich trotzdem falsch an.

Nach dem Video hatte Mills vorsichtig sein Bedürfnis ausgedrückt, sich erleichtern zu müssen. James hatte ihn in eine Flasche pinkeln lassen. Der Polizist war selbstverständlich nicht erfreut darüber gewesen, aber die Alternativen, sich entweder selbst einzunässen oder durchzuhalten, bis er wieder frei war, hatten ihn noch mehr abgeschreckt. Also hatte Mills widerwillig zugestimmt. Anschließend war James nach oben gegangen. Er hatte eine Weile nur dagesessen und aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Betonwand gestarrt, ehe ihm das Handy wieder eingefallen war, das er von Miles bekommen hatte. Schnell hatte er es eingeschaltet und tatsächlich hatte er wieder eine E-Mail. Miles war wirklich unglaublich. James wusste nicht, was er ohne ihn tun sollte.

„Ahoi James. Ich hoffe, es geht dir gut. Die Polizei hält die Sache bisher vor der Presse geheim, um zu verhindern, dass du noch mehr durchdrehst. Oh Mann, wenn die wüssten. Sie haben übrigens immer noch keine Ahnung, wo du bist. Ihre einzige Spur ist ein Kollege, nach dem sie momentan suchen. Du sollst ihn bei Joys Gedenkgottesdienst getroffen haben. Jemand will beobachtet haben, dass ihr euch gestritten habt und die Polizei geht davon aus, dass es dein Komplize sein könnte. Wer ist der Mann, James? Weißt du etwas über ihn? Die Polizei weiß bisher nichts, keine Sorge, aber sie vermuten, dass er kein echter Polizist ist. Also füttere mich jederzeit mit Informationen über diesen Mann, okay? Vielleicht kann ich ihn ja finden.
So, dann bleibt mir nur, dir weiterhin das Beste zu wünschen. Denke daran, wofür du das tust. Joy ist die Sache wert.
Machs gut,
Miles"

Sprachlos starrte James auf den Bildschirm. Der Mann! Wie hatte er ihn nur vergessen können? Natürlich! Das war eine Spur. Sogar die Polizei war schon auf seiner Fährte. Allerdings hatte James einen entscheidenden Wissensvorsprung. Er wusste, dass er ein Freund von Nicholas war und er kannte sogar seine Autonummer. Sofort schrieb James Miles zurück, beschrieb den Mann so genau, wie er konnte, und gab Miles alle weiteren Informationen, die er hatte. Er hoffte inständig, dass Miles den Mann auf diese Weise finden und so etwas über Nicholas' Aufenthaltsort herausfinden konnte. Vielleicht wusste der Freund ja doch, wo Nicholas sich aufhielt? James klammerte sich an diese kleine Hoffnung, las noch ein paar Zeitungsartikel im Internet, bei denen seine Rolle bei der Entführung von Bryan Mills tatsächlich keine Erwähnung fand, und entschied dann schweren Herzens, sich wieder unten blicken zu lassen.

~

Bryan war völlig am Ende. Sein Schädel brummte, die Oberlippe war unangenehm dick und der Schnitt am Hals schmerzte. Wenigstens hatte er sich nach Stunden der Quälerei endlich erleichtern können, auch wenn es erniedrigend gewesen war.

Bryan bekam Lockwoods Worte nicht mehr aus dem Kopf. Was der Professor zu Hansson gesagt hatte, hatte sich in sein Hirn gebrannt. Er fragte sich, ob Hansson das Video wohl schon gesehen hatte und es machte ihn fertig, zu wissen, dass sein Vorgesetzter ihn in diesem Zustand zu sehen bekam. Er hoffte nur, dass Hansson das Video nicht weiterleitete. Bryan wollte nicht, dass noch mehr Leute ihn so sahen. Schwach, gebrochen, ausgeliefert.

Schmerzlich dachte er an Joy. Sie war von zehntausenden Menschen beobachtet worden, und das stundenlang. Sogar tagelang! Es war unvorstellbar schrecklich. Wieder kamen ihm die Tränen. Das waren Joys letzten Tage gewesen. So war Joy aus dem Leben gegangen. Wenn er sich vorstellte, dass Lockwood ihn tötete und das hier das Letzte war, was er erlebte, wurde ihm ganz anders. Er wollte sich doch noch von seiner Schwester und seinen Nichten verabschieden. Er konnte so nicht gehen. Niemals. Es war ein grausamer Gedanke und Bryan betete darum, dass Hansson sich an Lockwoods Forderung hielt, um das zu verhindern.

Im Strudel der Zeit - TodgeweihtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt