Kapitel 45

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James lag wach. An Schlaf war nicht zu denken. Er hatte nun schon eine ganze Weile gewartet. Immer wieder hörte er Mills leise stöhnen, während er versuchte, sich unter seinen Fesseln zu regen. Es war ihm nicht zu verübeln, dass er weiterhin darum kämpfte, sich zu befreien. Aber das war bei dem vielen Klebeband vollkommen unmöglich. Er würde sich damit abfinden müssen, dass alles, was er tun konnte, sich darauf beschränkte, minimalst seine Position zu ändern und dafür zu sorgen, dass seine Gliedmaßen durchblutet wurden. James konnte sich nur allzu gut vorstellen, dass Hände und Arme des Polizisten längst eingeschlafen waren. Er kannte das Gefühl. Eines unglücklichen Tages hatte Henry ihn beim Aufteilen des Geldes, das er in einem Bauernhaus gefunden hatte, erwischt. James hatte das immer getan. Er hatte nur einen Teil der vorgefundenen Besitztümer an Henry übergeben und den Rest versteckt, sodass die Menschen nicht all ihres Hab und Guts beraubt waren. Doch Henry hatte ihn beschuldigt, Geld für sich selbst einstecken zu wollen. Er hatte ihn gepackt, verprügelt und zurück aufs Schiff geschleppt. Dort war James anschließend für zwei Tage und zwei Nächte gefesselt an den Mast verdammt gewesen. Henry hatte ihn mit einem dicken Seil bewegungsunfähig gemacht und es der Mannschaft offengelassen, jederzeit zuzuschlagen, wenn es ihnen danach war. Einige hatten zu James' großem Leidwesen ihren Spaß daran gehabt. Es war eine Strafe für James und eine Lektion für die ganze Mannschaft gewesen, was passierte, wenn man versuchte, Henry zu hintergehen.

Interessanterweise hatte James das nicht zum Gespött der Mannschaft gemacht, sondern ihm im Gegenteil Respekt eingebracht. Er hatte gewagt, Henry zu betrügen. James selbst hatte aus seiner Lektion lediglich gelernt, vorsichtiger zu sein. Beim nächsten Raubzug hatte er weitergemacht wie bisher, er hatte nur öfter über seine Schulter geblickt.

All das war lange her und James hatte es vor langer Zeit in den Tiefen seines Gedächtnisses vergraben, wo es auch für immer bleiben sollte. Trotzdem, er verstand, wie Mills sich fühlte. Mit dem einen Unterschied, dass Mills nicht eine ganze Mannschaft um sich hatte, die ihn beobachtete und ihm unentwegt Schläge ins Gesicht oder in die Magengrube verpasste.

Inzwischen waren Mills' Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger geworden. James sah das als Zeichen, dass er eingeschlafen war. Sofort schoss sein Puls in die Höhe. Es war an der Zeit, den Plan umzusetzen, an dem er bereits den ganzen Tag arbeitete.

Im Keller war es dunkel. Nur das kleine rote Licht der Kamera erleuchtete blass seine direkte Umgebung. Bis zu James' Schlafplatz reichte es allerdings nicht. Vorsichtig rollte sich James von der Matte nach hinten. Den Schlafsack hatte er vorausschauend nur als Decke benutzt anstatt hineinzuschlüpfen. Henry und Nicholas waren ganz schön dumm, nicht von James zu verlangen, das Licht anzulassen. Vielleicht erwarteten sie auch einfach nicht, dass er es wagen würde, sie zu hintergehen, schließlich hatten sie ein starkes Druckmittel. Aber genau dieses Druckmittel war es, das James zum Handeln trieb. Er konnte nicht einfach daliegen und nichts tun. Er musste seine Chancen nutzen. Und die Nacht war die einzige Chance, die er hatte. Er hoffte nur, dass Henry und Nicholas nicht zu genau auf das Video starrten. Dann würden sie womöglich einen sich bewegenden Schatten in der Dunkelheit erkennen.

James robbte langsam über den Boden aus dem Sichtfeld der Kamera. Erst dann richtete er sich auf und schlich weiter zur Tür. Das Handy hatte er auf lautlos gestellt und auf seiner Matte liegen gelassen. Wer konnte schon wissen, ob es nicht mit einem GPS-Sender ausgestattet war? Das Einzige, was er bei sich hatte, waren sein Geldbeutel und der Schlüssel zu dem Bürogebäude.

Er schlich die Treppe nach oben und gestattete sich erst im Flur, einen Moment durchzuatmen. Als er auf die Uhr sah, zeigte diese zehn nach eins. Er war beinahe überrascht, dass Mills tatsächlich so bald eingeschlafen war. Vielleicht war er auch nur für einen Moment weggedöst und bereits wieder wach. Oder das Adrenalin der letzten Stunden hatten ihn ausgeknockt. Eigentlich war es James auch egal, schließlich konnte Mills in der Dunkelheit nichts sehen und sagen konnte er auch nichts. Er konnte James nicht gefährlich werden, falls er etwas bemerkt hatte.

Im Strudel der Zeit - TodgeweihtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt