Kapitel 46

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Bryan hatte bisher kaum ein Auge zugekriegt. Es war einfach zu unbequem, auch wenn Lockwood dafür gesorgt hatte, dass er wenigstens seinen Kopf anlehnen konnte. Bryan sehnte sich danach, sich zu bewegen, seine Position zu ändern. Seine Arme waren hinter der Lehne eingeschlafen und Bryan hatte keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Es war ein widerliches Gefühl, als wären die Arme abgestorben. Er versuchte, so viel wie möglich mit seinen Finger zu spielen, um für eine bessere Durchblutung zu sorgen, aber auch diese fühlten sich taub an.

Bryan lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er darüber nachdachte, dass Joy ganze drei Tage an einen Stuhl gefesselt ausgeharrt hatte. Waren das womöglich die Hintergründe für seine Entführung? Bryan genauso leiden zu lassen wie Joy gelitten hatte, weil die Polizei es nicht früher beendet hatte? Dann hätte Bryan noch erschreckend viel vor sich. Gänsehaut breitete sich über seinen gesamten Körper aus, obwohl er schwitzte.

Plötzlich hörte er, wie die Tür zum Keller leise ins Schloss fiel und horchte auf. Lockwood schien zurückzukommen. Bryan hatte mitbekommen, wie er sich irgendwann hinausgeschlichen hatte. Er hatte sich nicht getraut, sich zu regen, aber seine Augen einen winzigen Spalt geöffnet und gerade noch gesehen, wie Lockwood langsam über den Boden gekrochen war. Ganz so, als hätte er versucht, sich vor jemandem zu verstecken. Aber das ergab keinen Sinn, so wie das Meiste hier einfach keinen Sinn ergab.

Lockwood war lange weg gewesen. Bryan fragte sich, was er wohl getan hatte. War er nur oben gewesen und hatte geweint? Getrauert? Über alles nachgedacht? Was er hier tat, konnte ihm doch nicht völlig egal sein. Bryan hielt die Luft an, als er wenige Meter hinter sich Schritte hörte. Lockwood war im Keller angekommen und schlich hinter ihm vorbei. Bryans Herz schlug schneller. Was, wenn es gar nicht Lockwood war? Es konnte jeder sein. Ein Obdachloser, die Polizei... Nein, ein Obdachloser war eher unwahrscheinlich. Lockwood hatte einen Schlüssel benutzt, als er Bryan hierher gebracht hatte. Die Tür war verschlossen. Bryan schöpfte die vollkommen surreale Hoffnung, dass es ein Sondereinsatzkommando war, das ihn jeden Moment befreien würde. Doch schon im selben Augenblick wurde seine Hoffnung zerstört. Lockwood tauchte in seinem Blickfeld auf. Und jetzt bestand kein Zweifel daran, dass er es war, denn er legte sich wieder auf den Boden und robbte die letzten Meter zu seiner Matte. Was hatte es nur damit auf sich? Bryan verstand es nicht. Er würde Lockwood gerne fragen, doch er glaubte nicht, dass er darauf eine Antwort erhalten würde. Außerdem konnte er gar keine Fragen stellen.

Bryan versuchte, sein Herz wieder zur Ruhe zu bringen, und schloss die Augen, sodass Lockwood nicht bemerkte, dass er wach war. Was ging nur in diesem Mann vor? Wie sehr hatte ihn der Tod seiner Tochter erschüttert, dass er zu so etwas fähig war? Bryan hörte kaum, wie Lockwood sich auf die Matte zurücklegte. Scheinbar wollte sein Entführer ihn nicht wecken, so leise, wie er die ganze Zeit über war. Bryan atmete langsam ein und aus. Er hasste alles hieran und konnte es kaum erwarten, bis das alles endlich ein Ende hatte.

~

Endlich war die Nacht vorbei. Es war eine Qual gewesen. Joy hatte nicht viel Schlaf gefunden. Sie war von Schmerzen geplagt worden und ihre Gedanken hatten ihr keine Ruhe gelassen. So sehr sie auch versucht hatte, sich abzulenken, es war ihr nur für kurze Zeit gelungen.

Inzwischen war es wieder hell, die Uhr in der Küche zeigte kurz vor Sieben. Und obwohl Joy wusste, dass der Tag kaum etwas Gutes bringen konnte, hätte sie die unruhige Nacht nicht viel länger ausgehalten.

Joys Magen knurrte und sie verkrampfte sich jedes Mal erschrocken, weil sie nicht wollte, dass Nicholas es hörte. Irgendwann in der Nacht hatten die beiden sich abgewechselt. Sie hatte ein Gespräch belauscht, in dem Black Soul Nicholas erzählt hatte, dass bisher alles ruhig gewesen war. Da sie die meiste Zeit wach gelegen und keine Störungen mitbekommen hatte, war vermutlich auch die restliche Nacht nichts Nennenswertes passiert. Joy war unheimlich erleichtert, wobei es zugleich all ihre Hoffnung zerstörte, dass ihr Dad eine Chance hatte, sie zu retten. Er wurde rund um die Uhr von Black Soul und Nicholas überwacht. Wie sollte er sich denn auf die Suche nach ihr machen? Joy war hin und hergerissen zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, doch die Hoffnungslosigkeit drohte zu siegen. Noch wollte sie das aber nicht zulassen! Sie war niemand, der schnell aufgab. Sie würde noch ein bisschen weiterkämpfen und ihrem Dad noch eine Chance geben. Denn sie wusste, dass es ihn zerstören würde, wenn er sie nicht retten konnte.

Im Strudel der Zeit - TodgeweihtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt