Kapitel 60

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Freitagmorgen also. Ich stieg wie immer als letzte aus dem Bus und bildete das Schlusslicht. Ein paar Meter vor mir liefen Harry und Tiffany.


Wie ich sie hasste.


Niall wartete wie immer vor der Schule auf mich und empfing mich mit einem warmen Lächeln. Ich gab mein Bestes um es zu erwidern.


Vor meinem Klassenzimmer verließ er mich und ich schlich mit gesenkten Blick rein, nach hinten auf meinen Platz. Höchst konzentriert niemanden anzuschauen. Vor allem nicht ihn.


Er saß schon auf seinem Platz und bewarf andere Mitschüler mit Stücken von seiner Banane, was wirklich widerlich war. Kurz bevor ich meinen Platz erreichte, streckte er sein Bein aus. Ich stolperte darüber und fiel hin.


Die meisten lachten, von manchen erntete ich mitleidige Blicke. Mit hochrotem Kopf stand ich auf und setzte mich auf meinen Stuhl. Normalerweise wäre ich aufgestanden und hätte ihm eine gescheuert.


Aber ich hatte keine Kraft mehr. Es tat so weh. Wenn er mich wenigstens nur ignorieren würde. Das wäre schon schmerzhaft genug. Aber gibt es etwas Schlimmeres als von dem Jungen, den man immer noch liebt, jeden Tag gedemütigt und gemobbt zu werden?


Die ersten zwei Stunden vergingen im Schneckentempo. Wir hatten Englisch. Eigentlich mein Lieblingsfach, aber ich hatte die Freude daran verloren. Wie an fast allem eigentlich.


Den Rest der Stunde verbrachte ich damit, darüber nachzudenken worüber ich mich noch freute. Was mich noch am Leben hielt.


Mir fiel nichts ein.


Schließlich klingelte es zur Pause. Ich machte mich so schnell aus dem Staub wie möglich, hatte keine Lust mit irgendjemand zu reden, nichtmal mit Niall.


Ich sperrte mich auf einer Kabine auf der Toilette ein, schloss den Klodeckel und setzte mich mit angezogenen Beinen darauf. Ich lehnte meinen Kopf zurück an die Wand und schloss die Augen.


Zwar kamen die ganze Pause schnatternde Mädchen rein und raus, aber immerhin hatte ich hier drin meine Ruhe. Niemand sah mich an, niemand lachte mich aus.


Irgendwann klingelte es und die Pause war vorbei. Die Toilette leerte sich, bis es ganz still war. Eigentlich sollte ich aufstehen und in den Unterricht gehen, aber ich hatte keine Lust.


Dennoch stand ich nach 10 Minuten auf und rappelte mich hoch. Langsam schlurfte ich zum Klassenzimmer, doch kurz vorher fiel mir auf, dass mein Handy weg war. Ich langte an meine Hosentaschen, aber die waren leer.


Hatte ich es im Klassenzimmer? Oder auf dem Klo vergessen? Seufzend drehte ich um und ging nochmal zurück. Als ich die Tür öffnete -


Das Bild würde ich niemals aus meinem Kopf bekommen. Zwei nackte Körper, zwei Menschen, mitten beim Sex. Lange platinblonde Haare und - braune Locken...


Beide drehten sich erschrocken nach mir um, seine Augen trafen direkt auf meine. Die Türklinke rutschte mir aus der Hand, ich stolperte zurück. In mir drin war nichts, ich konnte nicht denken, konnte nicht fühlen, konnte nicht atmen.


Ich wankte immer weiter zurück, bis ich mit dem Rücken gegen eine Wand stieß. Die Toilettentür war zugefallen, doch ich starrte immer noch in die Richtung, unfähig mich zu bewegen.


Dann rannte ich los. Ich wollte weg von hier, konnte immer noch keinen klaren Gedanken fassen. Draußen war es arschkalt, es hatte wieder geschneit und es fielen immer noch dicke Flocken vom Himmel.


Ich bemerkte es kaum. Die Kälte tat gut... Ich rannte immer weiter, nicht nach Hause, irgendwohin. Noch nie war ich solange gerannt. Irgendwann war ich aus der kleinen Stadt draußen, und stand wieder vor einem Wald.


Ich zitterte am ganzen Körper, aber das war mir egal. Ich stapfte durch den Schnee zwischen den Bäumen, mein Kopf war immer noch leer, genau wie mein Herz.


Plötzlich kam mir das Bild wieder in den Sinn. Sie - über ihm. In mir drin stieg etwas auf, Wut, Schmerz, ich wusste es nicht. Doch dann schrie ich, ich schrie, so laut ich konnte, doch es war nicht genug. Es half mir nicht.


Ich schlug mit der Faust gegen einen Baum und es tat verdammt weh, doch es war nicht genug. Schluchzend brach ich zusammen, sank auf allen Vieren in den Schnee und weinte.


Ich lag eine Weile so und weinte. Meine Zehen und Finger spürte ich schon lange nicht mehr und jeder Atemzug tat so weh... Doch es war gut.


Hoffentlich würde mich niemand finden. Eigentlich war es unmöglich. Ich war irgendwo mitten im Wald und niemand wusste wo ich war.


Es kam mir ewig vor. Ich lag ewig so dran, zitterte schon lange nicht mehr. Alles was ich sah, waren die Baumkronen und den weißen, wolkenbedeckten Himmel.


Doch es wurden immer weniger Baumkronen und immer mehr weiß. Irgendwann sah ich nur noch weiß... und dann fühlte es sich so an als würde ich einschlafen...



Don't let me go (Harry Styles FF deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt