"Oh Mädchen, Evelyn hätte sicher nicht gewollt, dass so ein schönes Kind wie sie weint!" holte mich eine alte männliche Stimme zurück.
Erschrocken drehte ich mich um und schniefte. Ein alter Mann stand vor mir. Er hatte graue Haare, grüne Augen und ein paar Falten, aber sein freundliches Lächeln ließ ihn um viele Jahre jünger wirken, als er wahrscheinlich war.
"Nicht?"
Er lachte kurz und schüttelte den Kopf: "Ich kenne sie nicht, darf ich fragen was sie hier machen?" fragte er, aber klang keineswegs unhöflich.
Ich wusste das solche Fragen kommen würden, deshalb blieb ich auch ganz ruhig und nahm es ihm nicht übel: "Nun, nach meiner Mutter war Evelyn meiner Großmutter, aber ich glaube ich bin ihr noch nie begegnet." klärte ich den Mann auf, woraufhin seine Augen aber zu strahlen begannen und mich von oben bis unten musterte.
"Alisson?" fragte er und klang so als ob er mich kannte.
Vorsichtig nickte ich und runzelte die Stirn, bevor er aber noch etwas sagen konnte kam meine Mutter aus irgendeiner Ecke der Hölle: "Dad, da bist du ja. Oh Alisson du bist auch da?" fragte sie ernsthaft überrascht.
Reiß dich zusammen, Alisson.
"Ach ist ja auch egal!" winkte sie mich ab, was mich die Augen verdrehen ließ "Kommt, sie wollen anfangen."
"Gabriella, ich bin ein alter Mann, also hetz mich nicht so!" mahnte mein scheinbar Großvater meine Mutter, was mich schmunzeln ließ. Der Anflug meines Lächelns verschwand aber gleich bei ihrem mahnenden Blick an mich.
Danach ging sie wieder.
"Du bist mein Großvater." stellte ich das offensichtliche fest.
"Und Bruno Mars ist nur halb so gut wie die Beatles!" sagte er und kam langsam auf mich zu.
Ich lachte verwirrt: "Was?"
"Ach Herzchen," begann er, als er mich erreichte und eine Hand auf meinen Rücken legte "du musst aufhören so viel nachzudenken."
Etwas überfordert ließ ich mich von ihm führen: "Wir kennen uns seit zwei Minuten, woher willst du wissen, dass ich zu viel nachdenke?" hinterfragte ich ihn, was ihn dieses Mal amüsiert zum lächeln brachte.
"Du hast den selben Gesichtsausdruck wie deine Großmutter, wenn sie nach gedacht hat und außerdem war ich bis zu deinem vierten Lebensjahr immer an deiner Seite und du warst schon damals ein sehr schlaues Kind, dass leider viel zu viele Fragen stellte."
"Wirklich? Ich kann mich nicht erinnern, tut mir leid." gestand ich traurig.
"Das braucht es nicht. Du warst eben noch ein kleines Kind."
Ich musterte ihn von der Seite als wir nun die Beerdigung erreichten. Er hielt an, als wir den Sarg sehen konnten. Nur zu gut wusste ich was nun in ihm vorging. Ich wollte ihm helfen und so nahm ich seine Hand und lächelte ihn aufmunternd zu. Von da an war ich diejenige, die ihn voran zog. Ich weiß, dass es weh tut. Ich weiß, dass es jetzt erst für ihn real wird, aber ich weiß auch, dass man diesen Abschied braucht. Auch wenn es als erstes nicht so wirkt.
Wir stellten uns nach vorne zu dem Sarg, während lauter, für mich Fremde, mich komisch musterten und meine restliche Familie hinten blieb. Ich wollte zu ihnen, doch mein Großvater ließ meine Hand nicht los.
Irgendwann merkte ich, dass nicht nur er diesen Halt brauchte, sondern auch ich. Seine Hand verhinderte, dass ich in meine Erinnerungen abdrivtete. Dennoch tat es weh. Ich konnte nicht aufhören an Lee zu denken und daran wie schrecklich ihn vermisste und wie ich ihn nie wieder sehen würde.Ein Foto meiner Großmutter riss mich erneut aus den Gedanken. Ich sah ihr irgendwie ähnlicher als meiner Mutter. Sie hatte die gleiche Stupsnase und die gleiche Gesichtsform, auch wenn sie natürlich auf dem Bild Jahre älter war als ich. Irgendwie ließ mich das ihr näher fühlen. Es sind zwar nur äußerliche Merkmale, aber es ist etwas.
Ich hörte gar nicht dem Mann vorne zu. Ich bewegte mich nur automatisch, was wenigstens vermied, dass ich anfing zu weinen.
Nach der Beerdigung fuhren wir, wie ich schon vermutete, zu meinem Großvater. Einige der Leute von der Beerdigung kamen auch mit, aber Andere sind direkt gegangen. Alle fragten aber wer ich denn sei. Mein Großvater hatte es irgendwann scheinbar auch Leid und hielt eine Ansprache in der er uns vorstellte, aber auch nochmal betonte, dass seine Enkelkinder nicht wussten, dass ihre Großeltern noch lebten. Ich schätze mal er ist aus welchem Grund auch immer noch sauer auf meine Mutter. Was das anging spekulierte ich aber nicht viel, da ich aus eigener Erfahrung wusste, dass die Liste der Gründe, warum man auf meine Mutter sauer sein konnte, verdammt lang ist.
In dem Haus meines Großvaters wurde es mir zu viel, daher verschwand ich in den wirklich schönen Garten. Mit jeder Minute wurde die Stimmung immer erdrückender. Nicht nur, weil alle Geschichten über meine Großmutter erzählen konnten, außer mir, sondern auch weil es mir irgendwann schwer fiel zu atmen. Es war als stünde ich kurz vor einer Panickattacke.
Ich setzte mich auf die Treppe die runter zum Garten führte und hörte noch wie sich die Tür schloss und die Stimmen leise verstummten. Ich holte tief Luft und achtete eine Weile nur auf meine Atmung. Der Garten bestand aus einer saftig grünen Wiese, einigen Bäumen und einem kleinen Teich. Daneben stand noch eine Schaukel und an einem etwas älterem Baum auf der anderen Seite des Gartens war an einem Ast ein Seil angebracht. Es wirkte wie ein Traum und ich hatte das komische Gefühl, dass ich diesen Ort kannte."Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können." sprach plötzlich mein Großvater und riss mich von dem schönen Anblick los.
Ich runzelte kurz die Stirn: "Jean Paul?"
Erstaunt nickte mein Großvater und setzte sich mit einem schwerem Stöhnen neben mich: "Woher weißt du das?"
"Niemand kennt den Tod, und niemand weiß, ob er für den Menschen nicht das allergrößte Glück ist." zitierte nun ich jemanden und zuckte dann mit den Schultern "Ist ein Hobby."
Das erste Mal, seit wir in diesem Haus sind lächelte er: "Ein wirklich schönes, war das eben... Sokrates?" fragte er, woraufhin ich bloß nickte.
"Deine Mutter konnte man früher mit so etwas jagen!" erzählte er.
"Wirklich?"
Er bejahte schlicht: "Warum bist du nicht drinnen?"
"Das Gleiche könnte ich dich fragen." konterte ich und sah ihn nun wieder an.
"Ich wollte weg von den mitleidigen Blicken." antwortete er und blickte mich jetzt erwartend an.
Schulterzuckend seufzte ich: "Ich.. ich fühle mich dort einfach fehl am Platz. Alle erzählen nur Geschichten und ich ... ich kann nur nicken. Ich kannte sie nicht." gestand ich traurig und drehte meinen Kopf wieder weg.
Von der Seite stubste mein Großvater mich an: "Da ist aber noch etwas."
"Was soll da noch sein?" fragte ich angeblich ahnungslos, doch wie sich herausstellte ließ er sich nicht so leicht abschütteln.
"Alle sehen mich mitleidig an, selbst deine Mutter, nur meine Enkelin nicht."erzählte er von seinen Beobachtungen.
"Also bin ich herzlos?"
Er lachte: "Du bist sicher einiges, aber nicht herzlos, mein Schatz. Auch wenn ich glaube, dass ein wenig Kälte dir gut tun würde, zum Eigenschutz."
"Mum, Dad und James wissen davon nichts." sagte ich und sah ihn nun abwartend an. Er sah noch traurig aus, aber auch willig sich meiner anzunehmen. Was sollte schon schief gehen oder? "Vor etwa einem Jahr starb mein Freund!"
Plötzlich riss er seine Augen auf: "Oh Alisson!"
"Ich kann zwar nicht nachvollziehen wie es ist die Person zu verlieren, die man sein halbes Leben bei sich hatte, aber ich weiß wie es ist die Liebe seines Lebens zu verlieren."
"Mein Liebes, es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war." sagte er und legte seinen Arm um mich.
"Wir sind beide ziemlich am Arsch." meinte ich schniefend und lehnte mich gegen meinen Großvater.
DU LIEST GERADE
Gebrochenes Herz
Teen FictionAlisson Melody Jameson hat augenscheinlich ein ganz normales Leben und ist nichts besonderes. Sitzengeblieben ist sie in der 4. Klasse schon und ist seit dem alles, aber nicht das Lieblingskind ihrer Eltern, besonders nicht das ihrer Mutter. Ihr Bru...