26. Schleife

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Ich befinde mich in einem Haus, welches ich aber nicht zuordnen kann. Doch es überkommt mich ein Gefühl der Beklemmung. Das Haus ist ein prachtvolles viktorianisches Gebäude mit einer eleganten Fassade aus weißem Marmor und goldenen Verzierungen. Die majestätischen Säulen, welche das Haus stabilisieren, strahlen eine Aura von altertümlicher Eleganz aus.
Obwohl ich sicher bin, dieses Haus noch nie zuvor besucht zu haben, kommt mir dennoch alles darin unwohl bekannt vor.Die breite Eingangshalle begrüßt mich mit einem imposanten Kronleuchter, der funkelndes Licht auf die glänzenden Marmorböden wirft. Die Wände sind mit kunstvollen Goldrahmen geschmückt, die Gemälde von fernen Ländern und längst vergangenen Zeiten enthalten. Ein schwerer, weißer Vorhang hängt an einem der Fenster und flattert leicht im sanften Wind.

Als ich weiter durch das Haus gehe, sehe ich eine Reihe von Türen, die zu verschiedenen Räumen führen. Doch keine von ihnen lockt mich besonders, und ich zögere, eine davon zu öffnen.
Ein seltsames Gefühl der Unsicherheit und Angst durchzieht mich, und ich frage mich, ob ich hier wirklich allein bin.
In einem der Flure entdecke ich eine wunderschöne, gekrümmte Treppe mit einem filigranen Geländer, das von kunstvollen Schnitzereien geziert ist. Ich beschließe, nach oben zu gehen, um mir einen Überblick über das gesamte Haus zu verschaffen. Der Gedanke, nicht allein in den oberen Etagen zu sein, beunruhigt mich jedoch zutiefst.

Oben angekommen, finde ich weitere Zimmer, die alle in einem ähnlichen viktorianischen Stil gestaltet sind. Weiße Wände, golden verzierte Möbel und schwere Vorhänge lassen die Räume zeitlos und edel wirken. Ich habe das Gefühl, dass diese Zimmer schon einmal meine Zuflucht gewesen waren, aber ich kann mich nicht erinnern, wann oder warum.
Ich stehe vor einer geschlossenen Tür, als ich plötzlich die leisen Klänge eines Klaviers vernehme. Die Melodie ist zauberhaft und voller Anmut. Jeder Ton tanzt förmlich in der Luft und fesselt meine Aufmerksamkeit. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, und die Musik lockt mich magisch an, als ob sie mich persönlich einladen würde, das Zimmer zu betreten.

Ohne lange zu überlegen, strecke ich meine Hand aus und berühre die Türklinke. Ein Kribbeln durchfährt mich, als ich langsam die Tür öffne. Ein Strahl von goldenem Licht dringt aus dem Zimmer und umhüllt mich.
Der Raum ist in sanftes Licht getaucht, das von einem eleganten Kronleuchter im Zentrum des Raumes ausgeht. Der Raum selbst scheint sich der Musik anzupassen, denn die Wände scheinen förmlich zu atmen, und die Atmosphäre ist erfüllt von einer unwirklichen Harmonie.
Die Musik umhüllt mich wie ein warmer Mantel, und ich fühle mich, als ob ich an einem besonderen Ort gelandet wäre – einem Ort, an dem die Zeit stillstand und nur die Klänge des Klaviers zählen.

Ein kleines Mädchen, mit einem schönen weißen Leinenkleid bekleidet, sitzt auf einem formschön, mit geschwungenen Kurven geschmückten Stuhl, vor einem Flügelklavier. Das Klavier hat die verschiedensten Schnitzereien, die Menschen in verschiedenen Handlungen darstellen. Ein paar Haarsträhnen rutschen den Mädchen ins Gesicht, welche sie sichtlich genervt hinters Ohr schiebt.
Die Schleife, die die Haare zusammenhält, scheint locker zu sitzen.

Sie spielt auf dem Klavier ein ziemlich schweres Lied für ihr Alter, als eine sehr schöne Stimme hinter uns ertönt. Ich drehe mich um und sehe eine Frau, die auf das kleine Mädchen zugelaufen kommt.
„Eine Oktave höher!" weist sie die Kleine an.
Das Mädchen nickt und wiederholt den Ton.
„Genauso"
Sie beginnt nur diesen Teil von vorne zu spielen, nur dieses Mal mit einer Oktave höher.

Die Frau dreht sich zu mir um.
Sie trägt ein dunkelrotes langes Kleid mit goldenen Verzierungen, um ihren Hals trägt sie eine prächtige Goldkette mit echt aussehenden Rubinen. Die Frau beachtet mich nicht, so als wäre ich nicht da. Elegant schreitet sie auf ein über großes Fenster zu, öffnet dieses und atmet tief die Luft ein.

Das Klavier stoppt und auch das kleine Mädchen kommt zum Fenster gelaufen, um hinauszuschauen.
„Darf ich für heute aufhören, Mama? Ich würde gerne hinaus und im Garten spielen."
„In Ordnung, Liebes"
„Nein!" brüllt beinahe eine Stimme neben uns, als ein etwas älterer Mann hineinkommt und auf die zwei zugeht.

Er nimmt das Mädchen am Handgelenk und führt sie zurück ans Klavier.
Sie spielt die Melodie weiter, mit zitternden Fingern, während der strenge Mann sie aufmerksam beobachtet. Er gibt ihr stetige Anweisungen, korrigiert ihre Fehler und lässt nicht eine einzige Sekunde Pause zu. Das Mädchen ist offensichtlich verängstigt und versucht ihr Bestes zu geben, um den Erwartungen des Mannes gerecht zu werden.
Es scheint nicht genug zu sein.
Der Mann schimpft und schreit, wenn sie einen Fehler macht.
Tränen steigen in ihren Augen auf und dennoch spielt sie hervorragend weiter. Sie hebt eine Hand, wahrscheinlich um die Tränen von ihrer Wange zu trocknen, doch kaum nimmt sie die Hand von den Tasten, packt der Mann ihr Handgelenk und drückt es wieder hinunter zurück auf die Tasten.

Plötzlich beginnt alles um mich herum sich zu drehen, ein brennen bildet sich um mein Handgelenk, welches ich umfasse aus Schmerz.
Bilder erscheinen vor meinen Augen.
Das Mädchen, die Schleife, das Mohnblumenfeld.
Schreie.
Ein lauter Knall ertönt.

Hinter mir, woher der Ton kam, steht plötzlich alles in Flammen. Doch das kleine Mädchen spielt weiterhin das Klavier, weinend. Schreiende Stimmen kommen aus den Flammen. Die eine Stimme klingt so hell und schön wie die der Mutter.
Ich höre ein Weinen, ein Schluchzen und dann wieder den Mann brüllen.
„Nein!"
Das Mädchen wirkt panisch und beunruhigt, sie versucht aufzustehen, aber der Vater hält sie zurück und zwingt sie weiterhin zu spielen. Er schreit und sagt zu ihr, dass sie nicht aufhören darf, bis sie perfekt spielt.
Ich fühle mich so hilflos und überfordert; gestresst.
Angstverzerrt greife ich nach meinem Zauberstab, doch in meiner Jackentasche befindet sich nichts.
Kein Zauberstab.

Während das kleine Mädchen, immer weiter ihre kleinen zierlichen Hände geschwungen, über das Klavier führt, umhüllen die Flammen langsam den Raum. Ich denke an das kleine Mädchen; wir müssen einen Weg hier herausfinden.
Unsere Leben retten.
Ohne groß nachzudenken, laufe ich los.
Ich laufe in die Richtung des kleinen Mädchens, welches immer noch, nun panisch, das Klavier spielt.
Ich greife nach ihrer Schulter.
Doch ich greife ins Nichts.
Ich greife einfach hindurch.

Jetzt fühle ich mich noch hilflos als vorher.
Ich kann sie nicht berühren.Ich hab mein Zauberstab nicht.
Was soll und kann ich tun?
Ich sehe, wie sie immer unruhiger wird und versucht, sich von ihrem Vater zu lösen. Aber er hält sie fest und zwingt sie weiterhin zu spielen.
Die Flammen werden immer stärker.
In dieser verzweifelten Situation kann ich das Mädchen nur beobachten und ihre Angst spüren. Das Feuer breitet sich aus und das Haus begann zusammen zu brechen.

In diesem Moment werde ich nach hinten geschubst. Ich falle in Wasser, welches mich vollkommen umgibt und werde von einer tosenden Welle verschluckt. Panik ergriff mich, als ich unter die Oberfläche gezogen werde. Ich bin nicht in der Lage, zu atmen.
Ich spüre, wie das Wasser meine Lungen füllt, und ringe verzweifelt um Luft.
Es fühlte sich an, als ob mein Körper von unsichtbaren Fesseln umschlungen wird, die mich am Aufsteigen hinderten. Die Welt um mich herum verschwimmt zu einem undurchdringlichen Dunkelblau, und das einzige Geräusch, das ich höre, ist das dröhnende Rauschen des Meeres.

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Ich schrecke hoch. Geschockt von dem, was eben passiert ist.
Desorientiert sehe ich mich in dem Zimmer, in dem ich mich befinde, um.
Mattheos Zimmer.
Er ist nicht da.
Ich setze mich in dem Bett auf und versuche erstmal zu realisieren, was das gerade war, während ich gleichzeitig versuche meinen zu schnellen Puls unter Kontrolle zu bringen.
Ich kenne das Mädchen.

Diese Haarschleife.

Ich springe aus dem Bett, die Tür hinaus und den Flur hinunter. Schnell renne ich in mein Zimmer und öffne eine meiner Badezimmerschublade und ziehe eine Haarschleife heraus.Die Haarschleife des Mädchens. Ich besitze die Haarschleife des Mädchens.
Das ist meine, schon seit eh und je.
Was ein Zufall denke ich.
Aber dieses Mädchen kommt mir auch so bekannt vor.

Bin ich das?

Infinite DesireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt