Kapitel 22 ~Head above Water~

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Für mich brach eine Welt zusammen.
Sofort spannten sich all meine Muskeln an.
Ich konnte Rael unmöglich vor den Augen meiner Tochter erschießen...
Das konnte ich ihr nicht antun. Sie würde für immer traumatisiert sein und mich für ein Monster halten.
Sie würde Angst vor ihrer eigenen Mutter haben...
Ich saß also in der Falle.
Aber ich war auch nicht gewillt, jetzt aufzugeben.
Ich würde mich nicht so leicht geschlagen geben, das stand fest.

Esmira hatte mich inzwischen erreicht und klammerte sich an meine Beine.
Mein Finger lag noch immer fest am Abzug und mein Blick fixierte nach wie vor den Mann, der mir meine Tochter genommen hatte.
Neben ihm tauchte nun auch Marcel auf.
Natürlich, er war ja anscheinend sowas wie die persönliche Nanny meiner Tochter geworden.
Einerseits war ich natürlich froh darüber, dass sie eine Bezugsperson hatte, der ich halbwegs vertrauen konnte aber Marcel hatte mir auch mehr als deutlich gezeigt, wie sehr er sich verändert hatte, sodass ich mir selbst nicht mehr ganz sicher war, ob ich ihm wirklich noch mein Vertrauen schenken sollte.

„Lyana, nimm die Waffe runter...", meinte Marcel seelenruhig.
„Misch dich da nicht ein!", knurrte ich abweisend.
Was bildete er sich nur ein? Erst Brandon und mich zu hintergehen und mich dann noch dazu aufzufordern, kampflos aufzugeben?!
„Ach Babe, ich wäre an deiner Stelle nett zum lieben Onkel Marcel. Schließlich passt er auf deine kleine Göre auf und wer weiß, wie lange du ihr noch Halt geben kannst. Wenn ich dich gleich erstmal eingefangen habe, ist er vielleicht der einzige, der noch auf sie aufpassen kann...", kam es hinterhältig von Rael.
„Nicht wenn ich dich vorher erschieße"
„Das wirst du nicht tun und das wissen wir beide. Du kannst es nicht. Du bist keine Killerin. Ich bin überrascht, dass du überhaupt weißt, wie man eine Waffe richtig hält"
Sein hämisches Lächeln ließ mich vor Wut zittern.

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Dieser Bastard war sich viel zu sicher. Er unterschätzte mich. Er sah in mir immernoch das schwache Mädchen, das ich vor ein paar Jahren noch war.
Er stand seelenruhig da; sah in mir nichteinmal den Hauch einer Bedrohung, obwohl ich die Waffe direkt auf seinen Kopf gerichtet hielt.
Und das machte mich wütend.
Das würde er noch bereuen...
„Du solltest mich nicht unterschätzen, du ..."
„Mama? Warum bist du so böse?", unterbrach mich die unschuldige Stimme meines kleinen Engels.
„Nicht jetzt, mein Schatz. Mama erklärt dir später alles. Mach die Augen zu, ja?", meinte ich angespannt. Ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. Wäre ich nur eine Sekunde lang abgelenkt, würde Rael den Moment nutzen und mir die Waffe abnehmen.
Und dann wäre alles verloren.
Ich klammerte mich regelrecht an diese Waffe, als hinge mein Leben davon ab. Und so war es ja eigentlich auch. Würde Rael mich kriegen, wäre ich so gut wie tot.

„Aber warum hast du so ein Ding, mit dem sie Sam wehgetan haben? Willst du dem Mann auch wehtun? Du sagst doch immer, man soll niemandem wehtun..."
Diese Worte machten etwas mit mir.
Der Gedanke an Sam ließ mir augenblicklich die Tränen in die Augen steigen.
Ich hatte ihn sterben sehen und hatte ihn nicht retten können...
Das konnte ich jetzt wirklich gar nicht gebrauchen, denn nun wurde mir die Sicht von meiner eigenen Tränenflüssigkeit vernebelt.
Ich war dabei das zu tun, was ich so lange versucht hatte, konsequent zu vermeiden: ich zeigte Schwäche.
Ich versuchte, mich zu beruhigen und meine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen, doch das schien alles nur schlimmer zu machen.

„Dir würde ich niemals wehtun, Mira, das verspreche ich dir...", verließen diese Worte viel zu zittrig meinen Mund.
Auch die Waffe in meinen Händen war nicht mehr fokussiert auf meinen Gegner gerichtet, sondern bewegte sich blitzschnell minimal auf und ab.

„Babe... Langsam verliere ich die Geduld! Tu uns allen einen Gefallen und nimm die Waffe runter. Das ist kein Spielzeug" meldete sich nun zu allem Überfluss auch noch der überhebliche Bastard mir gegenüber zu Wort.
„Halt die Schnauze, verdammt!", schrie ich hysterisch und schaffte es tatsächlich, wenigstens das Zittern meiner Hände soweit unter Kontrolle zu bringen, dass ich zumindest wieder ordentlich zielen konnte.
Ich merkte trotzdem, wie mir alles zu viel wurde.

„Lyana... Du solltest tun, was er sagt...", kam es ungeahnt vorsichtig von Marcel und ich bildete mir sogar ein, einen Hauch von Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
„Wie konntest du das mit Sam zulassen?", fragte ich ihn kaum hörbar, während die ersten verzweifelten Tränen meine Augen verließen, doch an seinem gekränkten Blick konnte ich sehen, dass er mich durchaus verstanden hatte.

„Mami, du redest ja gar nicht mit mir... Hast du mich nicht mehr lieb?"
So traurig hatte ich meinen Engel noch nie gehört.
Es brach mir das Herz, dass sie an sowas auch nur dachte...
Doch ich musste jetzt stark bleiben.
Irgendwie musste ich es schaffen, sie zu beschützen und hier raus zu holen.
„Mira, mein Engel, ich hab dich sooo doll lieb das kannst du dir nicht vorstellen."

Noch während ich redete konnte ich sehen, wie sich der Gesichtsausdruck von Rael immer weiter verdunkelte.
Er hatte offensichtlich genug davon, dass ich versuchte mich zu wehren und noch nicht klein bei gegeben hatte.
Seinem wütenden und verabscheuenswürdigen Blick wollte ich meine Tochter nicht länger aussetzen.
Ich musste sie aus der Gefahrenzone schaffen... auch wenn es mir schwer fiel, sie gehen zu lassen, aber ich könnte unmöglich sie und mich vor diesem Monster beschützen.
„Mira... Bitte geh zu Marcel. Er spielt mit dir Verstecken, okay? Es wird alles gut. Ich komme später nach"
Meine Worte machten es mir schwer, weitere Tränen zurückzuhalten, denn ich war mir absolut nicht sicher, ob ich meine Tochter jemals wiedersehen würde. Ich wollte nicht, dass das hier ihre letzte Erinnerung an mich war...
Es fiel mir so schwer, sie jetzt wegzuschicken...
Aber ihr und Brandon zuliebe musste ich jetzt stark sein.
„Bis gleich, Mama!", hörte ich nochmal die Stimme meines kleinen Engels, bevor die Kleine zu freudig zu Marcel hüpfte.
Es war zu ironisch, wie naiv sie noch war...
So gutgläubig...

Meine Lippen formten ein ‚Bring sie hier' weg, doch Marcel bewegte sich kein Stück.
Er schaute erwartungsvoll auf seinen Boss, der mich aber nur weiter finster anstarrte.
Langsam machte er mir wirklich Angst.
Seine Kieferknochen traten deutlich hervor und hätte ich ihn noch näher gestanden, hätte ich sicher seine pochende Halsader gesehen...
Er war wütend und ich wusste nicht, was gleich passieren würde. Aber genau deshalb musste meine Tochter sofort hier raus.
Doch es passierte nichts.
Langsam wurde auch ich wütend. Auch ich würde mich nicht länger hinhalten lassen.
Marcel sollte Mira hier raus schaffen, damit ich diesen Bastard, der mit alles genommen hatte, endlich erschießen konnte.
„Lass ihn nicht gewinnen. Du bist stark, Lyana!", hallte Brandons Stimme in meinem Kopf wider und vor meinem inneren Auge konnte ich sein wunderschönes Gesicht sehen mit diesen tiefbraunen Augen, die mich liebevoll aber dennoch voller Energie und Überzeugung aufschauten.
Der Gedanke an Brandon gab mir mein Selbstvertrauen zurück.
Ich war eine Blackeyl, verdammt!
Ich zuckte mit der Hand zur Seite und drückte ab.
Der ohrenbetäubende Knall hallte von den Wänden des Ganges wider.
Ich hörte Mira vor Schreck aufschreien und dann war kurz alles still.

Es geht weiter...

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