Kapitel 29 ~Eyes Closed~

17 3 0
                                    

„Ich weiß, du möchtest das gerade nicht hören, aber wir alle hier überleben, weil wir wissen, wie man mit Rael umgehen muss. Du weißt ja gar nicht, wozu er fähig ist...", redete die Schwarzhaarige weiter auf mich ein.
Und obwohl in ihrer Stimme so viel Ruhe lag, machten ihre Worte mich wütend.
„Ich weiß sehr wohl wozu dieses Monster fähig ist! Er will meine Familie zerstören! Dieser Bastard hat meine kleine Tochter in seiner Gewalt, vor einigen Jahren schon ein Kind brutal hinrichten lassen und würde mich am liebsten zerstückeln! Nur leider wird er mich wohl noch ein bisschen brauchen und mich deshalb nicht umbringen. Und ich werde ihm weder geben, was er will, noch werde ich mich kampflos geschlagen geben! Mag sein, dass ihr aufgegeben habt, aber das wird mir nicht so schnell passieren!", machte ich lautstark klar und Mave war einen Moment lang still.

Sie schien in ihrem Kopf nach den richtigen Worten zu graben.
„Ich sollte hier wohl mal einiges klarstellen"
Die Ruhe aus ihrer Stimme hatte Platz für eine gewisse Ernsthaftigkeit gemacht. Sie klang schon fast streng und tadelnd.
„Die meisten von uns sind tatsächlich freiwillig hier. Wir arbeiten für Rael, weil er gut bezahlt und uns dabei hilft, unsere Familien zu versorgen. Viele von uns würden anders nicht so gut über die Runden kommen. Es gibt feste Regeln hier, sodass wir kaum etwas zu befürchten haben. Viele der Männer kommen nur zum Zeitvertreib. Sie wollen Abwechslung, manchmal fühlen wir uns wie Psychotherapeuten. Natürlich gibt es auch welche von der aggressiven Sorte, aber die toben sich meistens im Keller aus. Und da solltest du wirklich nicht landen... Also versuche bitte, dich nach meinen Anweisungen zu richten. Ich verstehe, dass du allerdings nicht freiwillig hier bist und, wenn ich das so spekulieren darf, mit unserem Gewerbe bisher nichts am Hut hattest. Wir sind keine schlechten Menschen, sind nicht weniger Wert als andere. Wir machen nur unseren Job, werden dafür bezahlt und leben davon. Ich bin gerne bereit, dir diese Welt zu zeigen, oder dir zumindest beizubringen, wie du hier überlebst, aber dafür musst du uns respektieren"

Ich wurde plötzlich ganz kleinlaut.
So hatte ich das doch gar nicht gemeint.
„Ich habt meinen größten Respekt. Ich würde euch niemals als schlechte Menschen bezeichnen oder als weniger Wert ansehen. Und ich entschuldige mich von Herzen dafür, wenn ich einen anderen Eindruck gemacht haben sollte. Ich respektiere bloß Rael nicht und das wird auch niemals passieren. Ich möchte niemanden von euch in eine heikle Lage versetzen und erwarte nicht, dass ihr euch plötzlich gegen euren Boss stellt, doch erwartet ihr bitte nicht von mir, dass ich aus Angst blind tue was er sagt, nur um mich zu brechen.", antwortete ich ausführlich und hoffte wirklich auf Verständnis.

Es war tatsächlich nie meine Absicht gewesen, Mave zu beleidigen.
Sie war wahrscheinlich weniger freiwillig in dieser Situation als sie zugeben wollte, doch hatte sich mit ihrem Leben hier bestmöglich abgefunden.
Eine Zeit lang hatte ich das damals bei Brandon ja auch getan.
Nur hoffte ich, dass sie Rael gegenüber nicht zu loyal war und dass ihr trotzdem bewusst war, was für ein Bastard dieser Mann war.
Denn ich wollte sie auf meiner Seite haben.
Eine einigermaßen vertrauenswürdige Person auf meiner Seite würde mir nach der isolierten Zeit in dieser Zelle sicher guttun.
„Ich mag dein Selbstbewusstsein. Behalte es, solange du kannst...", murmelte Mave und auf ihren Lippen bildete sich ein müdes, gequältes Lächeln.
Ich konnte ihr ansehen, dass sie selbst nicht daran glaubte, dass ich mich nicht brechen lassen würde. Sie hatte wahrscheinlich schon genug Mädchen hier kennengelernt, die ihr Selbstbewusstsein viel zu schnell verloren hatten.
Doch das würde mir nicht passieren.
Ich hatte schon zu viel durchgemacht, zu lange gekämpft und zu viel ertragen, um jetzt plötzlich aufzugeben.
Ich wollte doch einfach nur zurück zu Brandon...

„Tut mir wirklich leid", fügte ich nochmals hinzu und schaute die Schwarzhaarige abwartend an.
„Ist schon gut, Lyana. Ich glaube, du musstest schon einiges durchmachen. Wenn du möchtest, zeige ich dir, wie du das hier auch durchstehst...", kam es verständnisvoll zurück.
Ich nickte dankend.
„Ich werde dich nach und nach den anderen vorstellen und du kannst jederzeit jede von uns um Hilfe bitten. Du bist nicht der erste Frischling, den wir hier einarbeiten."
Normalerweise hätte ich gegen diesen Satz protestiert, denn es klang fast so, als sollte ich lernen, mich hier wohlzufühlen und das war definitiv nicht mein Plan.
Doch Maves herzliches Lächeln ließ mich stumm bleiben.
Ich wollte mich schließlich nicht mit ihr anlegen.

„Ich schlage vor, du fängst heute Abend an der Bar an. Dort kannst du erstmal einen Überblick darüber bekommen, wie es hier so läuft und du kannst dich an die Männer gewöhnen. Du wirst die ganze Zeit hinter der Theke bleiben. Den ganzen Abend. Du wirst mit niemandem mitgehen, sonst kann ich für nichts garantieren...", warnte Mave.
„Ich werde sicher nicht freiwillig mit einem Carriord verschwinden", quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Allein der Gedanke daran ekelte mich an.
„Gut, dann werde ich dir mal deinen neuen Arbeitsplatz zeigen. Komm mit!", meinte Mave völlig unbeeindruckt von der Abscheu in meiner Stimme und ich folgte ihr wortlos zur Bar in der Mitte des Raumes.
„Hast du schonmal gekellnert oder hinter einer Theke gestanden?", fragte Mave beinahe rhetorisch.
Fast schon beschämt schüttelte ich vorsichtig in den Kopf und schaute sie entschuldigend an.

Nach einem aufmunterndem Lächeln erklärte sie mir ein paar Basics und wo was zu finden war.
Diese Bar kam mir riesig vor und auch, wenn ich eigentlich von mir behaupten würde, ein gutes Gedächtnis zu haben, würde ich heute Abend sicherlich nicht alles wiederfinden.
Außerdem war es mir ein Rätsel, wie sich ein Mensch merken sollte, welche Getränke in welches Glas gehörten.
Warum zur Hölle gab es überhaupt so viele verschiedene Gläser?!
Bei all den Erklärungen gewöhnten Mave und ich uns langsam aneinander.
Und als sie mir eine kleine Geschichte über eines der anderen Mädchen hier erzählte, passierte etwas, was ich bei all den physischen und psychischen Schmerzen so schnell nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Mir entwich ein lautes Lachen.
Ich erschrak fast schon selbst vor dem Geräusch, was Mave schließlich auch zum Lachen brachte.
Ich war ihr in diesem Moment einfach nur unglaublich dankbar.
Mave schien ein Anker zu sein, den ich gebraucht hatte, um nicht von der reißenden Strömung an den nächsten spitzen Felsen geschmettert zu werden, um dort endgültig zu zerschellen.
Dank ihr bemerkte ich wieder, dass ich noch nicht völlig verloren war.
Ich würde das alles durchstehen.
Ich hatte schon soviel durchgemacht, das hier würde ich beinahe mit geschlossenen Augen schaffen.
Das redete ich mir zumindest ein.

Plötzlich erschien ein bekanntes Gesicht in meinem Blickfeld und ich wurde von meinen Gedanken und aus der unbeschwerten Situation abgelenkt.
Ich kannte die Blondine, doch ich konnte nicht einordnen, woher.
Sie war groß und schlank. Ihre strohblonden Haare lagen eng an ihrer Kopfhaut an und waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem ihrer eleganten aber energischen Schritte hin und her wippte.

Woher kannte ich sie?

Mein Blick haftete regelrecht an ihr und als ihre blauen Augen mich fast schon wütend anblitzten, während sie in unsere Richtung wippte, war meine Erinnerung plötzlich wieder da.

„Jacky, meine Liebe, ich möchte dir die Neue vorstellen. Das ist Lyana. Sie wird heute die Bar übernehmen", erklärte Mave.
Die Augen der Blondine verengten sich und sie blickte mich angestrengt an.
Mein Name hatte wohl dazu geführt, dass auch sie sich langsam an mich erinnerte.
„Was zur Hölle machst du hier?!", entfuhr es ihr entgeistert.
„Das könnte ich dich auch fragen!", patzte ich zurück und sah aus dem Augenwinkel wie Mave offensichtlich verwirrt zwischen der Blondine und mir hin und her blickte.
„Ich arbeite hier!", zischte sie.

Alles an uns...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt