Kapitel 24

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Da wir schon genug Zeit verloren hatten beschloss ich für heute, dass wir einfach in meinem Zimmer bleiben würden. Noel war bis Mittag sowieso woanders mit seinem Ersti beschäftigt und die Bibliothek war zwar auf dem Campus, doch ein Stückchen zu laufen.

Ich wollte ihn nicht noch länger warten lassen. Schließlich ging wichtige Zeit für ihn dabei verloren. Natürlich war mir bewusst, dass George weitaus schlauer als ich war, doch das durfte ich mir nicht anmerken lassen.

Viel zu viel durfte ich mir bei ihm nicht anmerken lassen. Schließlich hatte er keine Ahnung, dass ich jedes noch so kleine Detail bereits über ihn wusste. Dass er der Mensch aus meinem Leben war, den ich am meisten liebte.

Ich saß auf meinem Bett und er an meinem Schreibtisch. Er las in seinem Buch die Seiten, die ich ihm genannt hatte. Mir war bewusst, dass ich ihn viel zu viel anstarrte, doch ich konnte nicht anders.

Er saß dort so seelenruhig, zufrieden und konzentriert, als wäre nie etwas gewesen. Dabei wusste ich ganz genau, was für eine Zeit er erst hinter sich hatte. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es nach dem Koma für ihn gewesen sein musste.

Wie kam er überhaupt auf die Idee nach Kentucky zu kommen? Ganz alleine? Er hatte alles und jeden zurückgelassen und war alleine hergekommen. Dabei lag er vor einem halben Jahr noch im Koma. George war unfassbar stark und begabt. Darauf war ich schon immer neidisch gewesen, ich bewunderte ihn dafür.

Als mir ein kleines Seufzen entfuhr, erlangte ich ungewollt seine Aufmerksamkeit. Er schaute mir direkt in die Augen, wodurch ich mich ertappt fühlte. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass ich ihn angestarrt hatte.

,,Sollen wir eine Pause machen und uns etwas zu essen holen?'' fragte er mich mit einem sanften Lächeln auf seinen Lippen, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte.
,,Klar'' entgegnete ich ihm nach wenigen vergangenen Sekunden, die ich ihn weiter einfach nur angestarrt hatte.

Während wir auf dem Campus noch zum Ausgang hinliefen, herrschte eine angenehme Stille. In mir herrschte währenddessen jedoch Unruhe. Ich machte mir ständig Sorgen darum, wie das alles hier ausgehen würde.

Obwohl George erst angekommen war, dachte ich schon an das Ende. Was würde bis dorthin alles passiert sein? Würde ich ihn sobald ich hier fertig war einfach wieder verlassen müssen und dieses Mal wirklich nie wieder sehen können?

,,Ich liebe dich, das werde ich immer George. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, versprochen.'' Das waren damals meine letzten Worte an ihn. Ich hatte ihm versprochen, dass wir uns eines Tages wiedersehen würden und hier war er. Lief neben mir, als wäre ich nie weg gewesen.

Jedoch hatte er mich wiedergefunden und nicht ihn, dabei erinnerte er sich nicht einmal mehr an mich. War es bloß ein merkwürdiger Zufall oder gab es wirklich so etwas wie Schicksal? Was auch immer es war, ich war mehr als dankbar dafür ihn wiederzuhaben. Doch gleichzeitig war ich mir noch immer unsicher, ob es eine so gute Idee war.

Es begann mich innerhalb von zwei Tagen schon aufzufressen, wie würde es nach zwei Wochen oder zwei Monaten werden? Nach zwei Jahren? Es machte mir Angst nicht zu wissen, wie es ausgehen würde. Was, wenn ich es verbocken würde? Wenn ich ihn dazu bringen würde, mich nicht mehr zu mögen, zu hassen?

Natürlich war ich immer noch Clay, Clay Harris, doch nicht mehr der, den George einst kannte - auch wenn er sich an diesen nicht mehr erinnern konnte. Als George damals in den Koma gefallen war, begann mein Leben sich ruckartig zu verändern.

Ich war in Tiefen meines Lebens in so jungen Jahren gefallen, aus denen ich dachte nie wieder herauskommen zu würden. Durch Kentucky hatte ich mein Leben zwar wieder in den Griff bekommen, doch das Rauchen, das Trinken und all diese verdorbenen Dinge waren dazugekommen.

Ich würde mich nicht unbedingt als Alkoholiker betiteln, doch manchmal kam es mir wirklich schon so vor. Gerade in Situationen mit denen ich nicht klarkam, griff ich zum Alkohol. Und wenn es nicht der Alkohol war, war das Rauchen meine andere Zuflucht.

Mir war bewusst, dass ich weder vom Trinken noch vom Rauchen etwas Gutes hatte, doch vermutlich war das auch erst der Grund, weshalb ich damit überhaupt erst angefangen hatte.

Ich wusste, dass ich mir so Schaden zufügen würde.
Schaden als Vergeltung für Taten, wie den Unfall.
Schaden, um den inneren Hass mir selbst gegenüber zu stillen. 
Schaden, um die Schmerzen in mir zu betäuben.

Automatisch hatte ich während all diesen Gedanken wieder nach meiner Schachtel gegriffen. Als ich dabei war eine Zigarette herauszuziehen, sah ich Georges Blick von der Seite im Augenwinkel. Wie auf Knopfdruck hatte ich sie wieder weggepackt, ohne eine herauszuholen.

,,Wieso Kentucky?'' entfuhr es mir nun.
,,Huh?'' machte er und schaute mich fragend an.
,,Wieso hast du dich für die Kentucky Universität entschieden?'' fragte ich klarer.
Plötzlich fing er sanft an zu lächeln, während er seinen Blick senkte.

,,Ich weiß es selbst nicht so genau, es fühlte sich einfach richtig an. Als hätte mich etwas hergezogen'' antwortete er. Nun starrte ich ihn fragwürdig an.
,,Verstehe'' murmelte ich, während ich an die Sache mit dem Zufall und dem Schicksal zurückdachte.


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Definitiv Schicksal würde ich Mal behaupten 😁

Wie findet ihr Missing Part eigentlich im Allgemeinen? Also auch die Idee dahinter? ^^

Missing PartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt