Aufwühlende Vergangenheit

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Als sie am nächsten Morgen aufwachte, erlitt y/n beinahe einen Herzinfarkt. Sie war am offenen Fenster eingenickt. Hätte sie sich im Schlaf nur etwas bewegt, wäre sie womöglich abgestürzt. So schnell sie konnte, kletterte sie von der Fensterbank. Chishiya war nirgendwo zu sehen, und da ihr Visa erst aufgefrischt worden war, hatte sie Zeit.

Mit glühender Zigarette zwischen den Lippen, schlenderte sie durch die Bücherregale. Die aufgehende Sonne strahlte durch die Fenster und tauchte den Morgen in ein glitzerndes Licht. Fast hätte y/n vergessen in welcher üblen Welt sie sich befand, so eine Idylle wirkte auf sie. 

Nach einigen Schritten entdeckte sei ein Buch am Boden. Sie bückte sich danach. Ein Medizinlexikon, verfasst auf Englisch. Während y/n das Buch betrachtete klopfte sie die Asche von ihrer Zigarette. Sie konnte nicht erklären, warum das Buch sie interessierte. Vielleicht weil es hier so auffällig einsam auf dem Boden lag. Also schlug sie es auf und überflog die Seiten, im Schneidersitz auf dem Boden sitzend.

Plötzlich stufte sie. Mit dem Finger fuhr sie über die Buchstaben, genauer den Namen. Chishiya Shuntaro. Die beiden Worte standen unter einem Artikel des Fachgebiets der Pädiatrie. Sie blinzelte, sie konnte nicht so recht glauben, was sie da sah. Zum einen schien ihr Chishiya noch nicht so alt, dass er richtiger Arzt sein konnte. Zum anderen blieb sie immer wieder an dem Begriff Pädiatrie hängen. Das war doch Kindermedizin. Y/n konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als sich um kranke >vielleicht sogar sterbende< Kinder zu kümmern. Wahrscheinlich war es da gerade gut, dass Chishiya so war wie er war. Ein rationaler Denker, der sich gut von seinen Emotionen loslösen konnte. Oder war er vielleicht erst deswegen so geworden? Weil das Schicksal der Kleinen nicht zu ertragen war, wenn man sich Gefühlsduseleien erlaubte.

Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie es nicht bemerkte, als sie Gesellschaft bekam. Erst als Chishiya sich neben sie kniete und ihr das Buch aus der Hand zog, zuckte sie ertappt zusammen. Doch er nahmehr die Lektüre ganz ruhig ab und stellte sie zurück in eines der Regale. Y/n währe es lieber gewesen, wenn er laut geworden wäre, weil sie in seine Privatsphäre eingedrungen war. Sein stummes Handeln gab ihr keinerlei Aufschluss über seine jetzige Stimmung.

"Du bist zu jung für einen richtigen Arzt", schnitt sie das Thema also an und erhob sich vom Boden. Sie hätte einfach nichts sagen können, aber das war nicht ihre Art. Chishiya tippte das Buch noch einmal kurz bedächtig an, dann drehte er sich langsam zu ihr. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, wie sie es schon oft bei ihm gesehen hatte. "Was du nicht sagst."

"Bist du Student?", sie trat einen Schritt auf ihn zu, hielt aber trotzdem Abstand. Chishiya antwortete nicht.

"Du musst gut sein, wenn du schon etwas veröffentlich hast", versuchte y/n es mit einem Lächeln. Es zeigte keine Wirkung, er starrte sie einfach nur ungerührt an. Sie hätte jetzt aufgeben können, doch dass er so wenig über sich kommunizierte stachelte sie irgendwie auf. Vor allem da er ja kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es darum ging über sie zu urteilen.

"Aber vielleicht ist das auch ganz normal. Ich kenn mich schließlich nicht aus. Aber ich kann mir vorstellen, dass man hart dafür arbeiten muss. Ist es anstrengend? Die ganzen Schicksale der Kinder ertragen zu müssen, meine ich vor allem. Bist du deswegen so?", sie konnte kaum aufhören zu plappern. Das er schwieg machte sie fast wahnsinnig. Auch weil sie glaubte, da auf was ernstes gestoßen zu sein. Warum also regte sich bei ihm nichts? 

"Wie bin ich denn?", fragte er. Allerdings wirkte Chishiya nicht sonderlich interessiert daran, dass sie ihn über ihre Meinung zu ihm aufklärte.

"Na so eben, genau wie jetzt." Demonstrativ deute sie mit der ausgestreckten Hand auf ihn, um auf seine verschlossene Haltung aufmerksam zu machen. "Du hältst nicht sehr viel von anderen. Jedenfalls machst du nicht den Eindruck, als würdest du es besonders genießen, wenn jemand um dich rum ist. Das macht dem Umgang mit dir extrem schwer. Hast du Angst davor, jemandem nahe zu sein, weil du weißt, wie schnell Menschen sterben können?"

Caught in Borderland (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt