Als sie die Augen wieder öffnete, war es draußen dunkel. Wann war sie eingeschlafen? Chishiya saß noch neben ihr auf der Couch, sie hörte seinen regelmäßigen Atem. Das Licht von draußen war gerade so hell, dass sie seine Konturen erkennen konnte. Wahrscheinlich war der Mond relativ voll und gab viel Licht, dass durch die Dachfenster in den Raum fiel.
Chishiya hatte die Augen geschlossen, er schien friedlich zu schlafen. Sie seufzte. Umso wacher sie wurde, desto mehr Gedanken schoben sich in ihr Bewusstsein. Aber die Art der Gedanken machte sie sauer. Y/n war wütend auf sich selbst, denn sie dachte an Yuma, Niragi und Chishiya. Nicht direkt an die drei. Mehr an ihre eigene Haltung ihnen gegenüber. Sie sollte sich darauf konzentrieren am Leben zu bleiben und nicht irgendwelche Hände halten oder fremde Lippen berühren. Wieder stieß sie schwermütig die Luft aus. War das vielleicht ihre Art der Verdrängung? Sie war gut im Verdrängen, dem Fakt und Yumas Tod war sie bisher ganz geschickt ausgewichen. Versuchte sie vielleicht in zu ersetzen? Bildete sie sich ein, wenn da jemand anderes an seinen Platz rücken würde, würde sein Tod sie nicht mehr kümmern? Oder wollte sie jemanden bei sich haben, den sie schützen konnte? Aber selbst wenn sie jemandem das Leben rettete, änderte das überhaupt nichts, das sah man am Beispiel Niragi. Es machte Yumas Tod ja doch nicht ungeschehen und brachte nur mehr Probleme. Sie atmete schon wieder lange ein, um die Luft in dem schwersten aller Seufzer auszustoßen, da traf sie eine harte Faust an der Schulter.
"Nimm deine Krise mit nach draußen oder gib endlich Ruhe." Chishiya war also wach. War er die ganze Zeit so neben ihr gelegen, oder hatte sie ihn erst geweckt? Sie wollte ihm schon einen Revancheschlag verpassen. Dann entschied sie sich eine andere Richtung einzuschlagen. "Ich hab jemanden umgebracht."
Chishiya blieb still. Hatte er keine Lust zu antworten oder überlegte er, was er sagen sollte?
"Wen?", entschied er sich dann dafür, auf sie einzugehen.
"Meinen Freund", es klang irgendwie komisch es so zu sagen. Wieder folgte Stille.
"Danach hab ich Niragi gefunden, er war ganz verbrannt", sie konnte sich nicht verkneifen, etwas anklagend zu klingen.
"Wie lang ist das her?" Die Frage war okay, nicht zu persönlich. Er gab sich mit dem zufrieden, was sie bereit war zu erzählen. Plötzlich kam sie sich unglaublich unsensibel vor, weil sie wegen seines Artikels in dem Lexikon so nachgehackt hatte. Jetzt konnte sie nachempfinden, wie unangenehm es ihm gewesen sein musste. Aber darum ging es jetzt nicht. "Ein paar Tage."
Nun hörte sie wie Chishiya sich aufrichtete, doch sie traute sich nicht ihn anzusehen. Das Polster der Couch knisterte, als er sich in eine andere Position brachte. "Warum bist du nicht traurig?"
"Hä?", was für eine blöde Frage. Natürlich war sie traurig. Glaubte sie jedenfalls. Doch sie wusste worauf er hinaus wollte. Sie merkte ja selbst, dass sie nicht gerade in Trauer über ihren Verlust versank. "Ich habs ganz gut verdrängt."
"Aber jetzt redest du doch darüber, ohne mit der Wimper zu zucken", merkte er an.
"Vielleicht zuck ich ja, du siehst es nachts nur nicht", witzelte sie, auch wenn sie gleich wusste, dass Chishiya nicht lachen würde.
"War er bereit gewesen dich auch zu töten?", natürlich ignorierte er den unpassenden Witz.
"Naja, ja ich denke schon", das war sehr beschönigt. Yuma hätte sie getötet um zu überleben, das wusste sie. Immerhin hatte er sie beinahe erwürgt.
Nun kam doch ein kleines Lachen von Chishiya? Eine verspätete Reaktion auf den blöden Witz von ihr?
"Was?", hackte sie nach. Doch er versuchte sie abzuwimmeln. "Nicht so wichtig."
"Rede!", befahl sie barsch. Er stöhnte entnervt. "Ja ja. Immer mit der Ruhe."
"Entschuldige", murmelte sie kleinlaut, weil sie wirklich sehr schroff geklungen hatte.
"Also hör zu. Diese Realität, die Spiele...", begann Chishiya zu erklären. "Ich kann mir vorstellen, dass wir durch die veränderte Umwelt Charakterzüge hervorbringen, die nicht in unser eigentliches Bild passen. Es ist gut möglich, dass wir in dieser Realität zu anderen Menschen werden."
"Andere Menschen?", sie wusste nicht, was sie von der Theorie halten sollte.
"Es ist doch unbestreitbar, dass du sehr gefühlvoll bist. Aber dass dich so ein Mord komplett unberührt lässt, passt nicht ins Bild."
"Es lässt mich nicht unberührt, ich bin kein Banda", verteidigte sie sich.
"Natürlich nicht. Ich sage ja auch nur, dass es sein kann, dass dein Empfinden sich in dieser Realität verändert. So kann ich mir deine unpassende Reaktion erklären."
"Und was war an dieser Erkenntnis lustig?", wollte sie jetzt noch wissen.
"Ich weiß auch nicht... Es ist einfach so absurde, was diese Welt mit einem macht."
"Also hast du dich auch verändert?" Sie hatte das Gefühl, dass er lange nicht mehr nur über y/n sprach. Dieser Gedanke war ihm so schnell gekommen, Chishiya musste ihn schon früher gehabt haben. Womöglich weil er an sich selbst Veränderungen festgestellt hatte, die untypisch für ihn waren.
"Ich denke schon", jetzt klang der junge Mann wieder distanziert. Normalerweise hörte man, dass er sein Wissen gern teilte. Jetzt hatte y/n nicht das Gefühl, dass er gern weiter sprach. Sie brauchte nicht lang, bis sie begriff warum. Aber es war doch wieder offensichtlich, er sprach ungern über sich, seine Empfindungen, sein Leben. Das hatten sie heute ja schon zur Genüge durchgekaut. Weil sie mittlerweile schlauer war, drängte sie ihn auch nicht weiter zu sprechen. Dennoch hielt sie ihn nicht auf, als er seine Aussage von selbst vertiefte.
"Als Arzt... Man kann nicht emotional involviert sein", y/n fand das sehr logisch. "Aber wenn man mal anfängt diese Gefühle zu unterdrücken, wird alles leichter, nicht nur das Arztsein. Man möchte überhaupt nicht mehr zurück zu irgendwelchen Gefühlen. Denn wenn man einmal abgeschaltet hat tut man Dinge... Man kann dann nicht mehr zurück. Wenn man sich wieder erlaubt zu fühlen, verkraftet man diese Dinge nicht."
Y/n verdrehte die Augen. "Aber so kalt bist du überhaupt nicht. Du bist schwierig, aber kein Unmensch. Immerhin hast du mir dein Versteck gezeigt, das um einiges sicherer ist, als ich geglaubt habe."
Sie wusste selbst, dass es kaum gerechtfertigt war, so etwas zu sagen. Immerhin kannte sie ihn erst seit kurzem. Sie wusste nicht, was alles auf ihm lastete. Aber es widerstrebte ihr ihm beizupflichten, wenn er sich selbst in ein so schlechtes Licht rückte. Y/n wäre ihm am vergangenen Morgen zwar am liebsten an die Gurgel gegangen, aber er hatte doch schon Nettes für sie getan. Allein wie er drauf geachtet hatte, dass sie Banda nicht zu sehr reizte, obwohl sie sich da noch weniger gekannt hatten als jetzt, dass war lieb von ihm gewesen.
"Wie gesagt, dieser Ort ist auch an mir nicht spurlos vorbei gegangen." Y/n fragte sich, was er damit meinte. Was an diesem Ort hätte ihn denn gefühlvoll stimmen können? Die barbarischen Spiele, die Toten, die Laserstrahlen, die vom Himmel schossen und einem das Hirn durchbohrten? Aber dann erinnerte sie sich, dass er von einer Freundin gesprochen hatte, als er y/n rauchend am Fenster gesehen hatte. Und dass er von seinen Freunden getrennt worden sei. Hatten die vielleicht was damit zu tun?
"Demzufolge werde ich also immer abgestumpfter, während du zum Sensibelchen mutierst?", schlussfolgerte sie.
"Nein, so hab ich das nicht...", setzte er sofort an, doch sie unterbrach ihn. "Doch doch. Das gefällt mir, sehr gut sogar. Und weißt du auch warum?"
"Warum?", er schien ahnungslos. Nun sah sie ihn endlich an, wobei ihr ein breites Grinsen auf den Lippen lag. "Damit hätten wir geklärt, wer wessen Hand nicht loslassen konnte."
Von Chishiya kam ein verächtlicher Laut. Doch zu ihrer Überraschung gab er ansonsten keine Widerworte.
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Caught in Borderland (German Version)
FanfictionGeplant war eine normale Reise nach Japan. Y/n sollte endlich die Eltern ihres Freundes Yuma kennenlernen. Doch gleich nach ihrer Ankunft in Tokyo, passiert etwas unerklärliches. Die Stadt ist wie leergefegt und y/n ist dazu gezwungen an tödlichen S...