- Leo -
Das schwere Eisentor quietscht gefährlich laut, als ich es aufdrücke. Unter meinen Schuhen knirscht der Kies und ab und zu knackt ein kleiner Ast, den der letzte Sturm vom Baum gerissen hat. Ansonsten ist es still. Dicke, graue Wolken hängen am Himmel, die verdächtig nach Regen aussehen. Wenn ich Glück habe hält das Wetter noch eine Weile an; zumindest solange ich hier bin. Aber irgendwie passt das Wetter zu meiner Stimmung. Und zu dem Ort an dem ich mich jetzt gerade noch befinde. Die Entscheidung herzukommen habe ich mir nicht leicht gemacht, aber ich brauchte jemanden zum Reden. Das diese nächsten Minuten ein sehr einseitiges Gespräch werden wird verdränge ich für's Erste. Dieser Gedanke liegt mir so schwer auf der Brust, wie der Rucksack auf meinen Schultern. Und das ich heute zum letzten Mal herkomme, macht die Sache auch nicht gerade leichter. Aber ich muss es tun! Ich kann nicht weitermachen; nicht so!
Ich biege an der nächsten Gabelung rechts ab, wo mir ein älteres Ehepaar entgegen kommt. Ich kenne die Beiden noch von früher, aus meiner Kindheit. Sie haben neben meinen Großeltern gewohnt. Jede freie Minute habe ich mit deren Tochter Isa gespielt, bis diese mit sieben Jahren im Urlaub beim schwimmen ertrunken ist. Isa wäre jetzt siebzehn Jahre alt, genau wie ich. Nach dem Tod ihrer Tochter zogen ihre Eltern weg von hier und kamen erst vor ein paar Jahren wieder zurück in die Heimat.
Die Augen der Frau sind verquollen und rot vom weinen. Auch ihr Mann sieht nicht viel besser aus. Aber was verlange ich? Immerhin sind wir auf einem Friedhof. Ich grüße die Beiden mit einem kurzen Nicken und setze meinen Weg fort. Erkannt haben die zwei mich anscheinend nicht, worüber ich mich aber keineswegs ärgere. Im Gegenteil. Ich bin sogar froh darüber. Ich habe Isa's Eltern das letzte Mal vor acht Jahren gesehen. Damals hatte ich noch langes, braunes Haar.
Um genau zu sein hatte ich dieses auch noch vor vier Stunden. Minutenlang lag ich in meinem Bett und habe auf das Ziffernblatt meines Weckers gestarrt. Als ich die Haustür pünktlich um halb sechs habe ins Schloss fallen hören, bin ich ins Badezimmer gerannt und habe selbst Hand angelegt. Zu meiner eigenen Verwunderung ist mir mein neuer Haarschnitt ziemlich gut gelungen und das Blond steht mir besser, als ich dachte. Danach habe ich meine wichtigsten Sachen in meinen Rucksack gestopft und habe dieses Haus verlassen. Um nie mehr dahin zurück zu kehren. Nie mehr!
Und jetzt bin ich hier. Alleine, mitten auf dem Friedhof am Grab meiner Mutter. Meine Schultern bleiben angespannt, als ich den Rucksack nach unten gleiten lasse und ihn neben mich ins feuchte Gras stelle. Meine Knie werden etwas weich, als mein Blick auf den Grabstein trifft und ich ihren Namen, sowie das Geburts- und Sterbedatum lese. Ich nehme den verwelkten Blumenstrauß aus der Vase und tausche ihn mit dem Strauß, den ich mitgebracht habe. Nachdem ich den alten Strauß entsorgt habe setze ich mich neben das Grab und suche das Teelicht aus meiner Jackentasche. Irgendwo finde ich sogar ein Streichholz. Keine Ahnung, warum ich solche Sachen dabei habe. Ich zünde die Kerze an und halte eine Hand vor die Flamme, um sie vor dem Wind zu schützen.
Das Wachs ist fast vollständig flüssig, als ich in der Ferne das Geräusch eines Automotors wahrnehme. Vorsichtig luke ich hinter der kleinen Hecke hervor, die um jedes Grab gepflanzt wurde und schaue zum Parkplatz. Als ich das einzige Auto welches dort parkt erkenne, beginnt mein Herz zu rasen. Scheiße! Was macht der denn hier? Ich habe ihn doch wegfahren hören. Hektisch sehe ich mich um, um sicher zugehen, dass mich noch niemand sieht. Die Kerze blase ich so heftig aus, dass das heiße Wachs auf meine Handfläche spritzt. Die Schmerzen ignorierend schnappe ich meinen Rucksack , werfe ihn mir über die Schulter und verschwinde. Weg vom Parkplatz, in die entgegengesetzte Richtung. Weg von Demjenigen, der jetzt in meine Richtung läuft. Zu meiner Erleichterung wurde das Loch im Zaun noch nicht repariert, sodass ich mühelos hindurch klettern kann.
Noch, als der Friedhof mehrere Meter hinter mir liegt, renne ich weiter, als wäre der Teufel hinter mir her. Okay – passender Vergleich. Um ganz sicher zu gehen, ziehe ich mir die Kapuze über und drehe mich nicht ein einziges Mal um, während ich wie eine Verrückte durch die Fußgängerzone renne. Wenn das Glück weiterhin auf meiner Seite ist, hat er mich nicht bemerkt.
Indessen hat es leider angefangen zu regnen, sodass es mich auf dem rutschigem Kopfsteinpflaster nicht nur einmal beinahe auf die Nase gelegt hätte. Ich bin nass bis auf die Knochen, die Sachen in meinem Rucksack sicher auch. Aber im Moment habe ich ganz andere Sorgen. Als ich meine Sachen gepackt habe und loslief habe ich mir keine Gedanken gemacht, wohin ich gehe. Geschweige denn, wo ich die kommenden Nächte verbringen soll. All das kommt mir jetzt so plötzlich in den Sinn, dass ich abrupt stehen bleibe und auf die Knie sacke. Am helllichten Tag, mitten auf dem Gehweg fange ich an zu heulen.
Aber jetzt im Nachhinein bin ich froh, in diesem Moment auseinandergebrochen zu sein. Denn kurz darauf machte ich eine Begegnung, die mein Leben für immer veränderte.
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Together we are strong
Fanfiction‼️TRIGGERWARUNG‼️ Diese Geschichte enthält triggernde Inhalte, die eventuelle Spoiler für den Verlauf der Geschichte enthalten. Zudem zählen: Verlust der Eltern und anderer geliebter Personen, Kindesmissachtung, Trauer, Waffenmissbrauch und Verarbe...