Kapitel 14

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- Leo -

Gebrochen habe ich mir bei meinem Sturz zum Glück nichts. Ich bin mit einer leichten Gehirnerschütterung und ein paar überdehnten Bändern im Sprunggelenk davon gekommen. Ich hatte Glück im Unglück. Von Allem, was dann nachher hier in diesem Raum passiert will ich gar nicht erst anfangen. Allein der Gedanke, dass Jimmy draußen sitzt, während ich die Untersuchungen über mich ergehen lasse, treibt mir wieder die Hitze ins Gesicht.

„Wegen der Gehirnerschütterung würde ich dich gerne eine Nacht dabehalten und jetzt noch ein bisschen Blut abnehmen.", sagt der Arzt zu mir und beginnt das nötige Equipment zusammenzusuchen. Alarmiert schaue ich auf und vergrabe meine Hände tiefer in den Taschen meines Pullovers. Die Decke, die noch immer über mir ausgebreitet ist umklammere ich fester.

„Ist das wirklich nötig?", frage ich.

„Keine Sorge. Das geht ganz schnell und ich bin ach ganz vorsichtig. Du brauchst keine Angst haben." Ich habe in meinem Leben definitiv schon bedrohlicheres gesehen, als eine Nadel beim Blut abnehmen, aber darum geht es mir auch überhaupt nicht.

„Ich habe keine Angst.", sage ich und lockere den Griff um die Decke ein wenig.

„Na dann können wir ja loslegen. Zieh bitte deinen Pullover aus.", bittet mich der Arzt. Ich suche nach irgendeiner Ausreden, warum das hier nicht nötig ist, aber auf die Schnelle will mir nichts einfallen. Ich muss mich hier und jetzt wohl meiner Vergangenheit stellen. Ob ich das will, oder nicht.

„Sie sind an die Schweigepflicht gebunden, oder?", frage ich.

„Ja, natürlich. Nichts was wir hier drin besprechen verlässt diesen Raum.", bestätigt mir der Arzt und ich beschließe, ihm zu vertrauen. Ich atme noch einmal tief und ziehe mir dann meinen Pullover aus. Ich lege ihn mir auf den Schoß, umschließe ihn fest mit dem freien Arm und wende den Blick ab. Die Blicke, die ich zugeworfen bekomme, sobald Leute meine Arme gesehen habe kenne ich, ohne ihnen direkt ins Gesicht zu sehen. So auch jetzt.

„Ich nehme mal nicht an, dass Jimmy davon weiß." Es ist mehr eine Feststellung, als eine Frage und trotzdem schüttele ich den Kopf. Ich schlucke schwer, um die Tränen zurückzuhalten, die bedrohlich nahe an die Oberfläche gekommen sind.

„Aber dir geht es soweit gut?", fragt mich der Arzt, der das Blut abnehmen scheinbar völlig vergessen hat und jetzt die feinen Narben an meinen Armen genauer unter die Lupe nimmt.

„Ja, die Zeiten sind vorbei. Ich mache das schon lange nicht mehr.", antworte ich ehrlich.

„Das ist gut. Ich hätte dir sonst ein paar Adressen von Kollegen hier in der Gegend aufschreiben können. Es muss dir nicht peinlich sein um Hilfe zu bitten."

„Wie gesagt, es geht mir gut.", beteuere ich.

„Darf ich dir noch eine Frage stellen?" 'Als hätte ich eine andere Wahl', denke ich und nicke. Das Seufzen kann ich zum Glück unterdrücken.

„Wann hast du dir das letzte Mal selbst etwas angetan?", fragt er und sieht mich eindringlich an.

„Wie gesagt, das ist schon ewig her. Ein Jahr.", antworte ich. Seit ich den Entschluss gefasst habe, mir mein eigenes Leben aufzubauen und von zu Hause zu verschwunden bin.

„Ein Jahr ist nicht lange. Aber du bist alt genug und ich kann dich nicht zwingen, dir Hilfe zu holen. Vielleicht würde es schon helfen mit jemanden zu reden, dem du vertraust."

„Auf keinen Fall. Wie gesagt, mir geht's gut. Zumindest was das angeht.", antworte ich vielleicht ein bisschen zu forsch, doch mein Fuß pocht, als wäre ich in den letzten Minuten hier herumgelaufen.

„Wie du meinst. Ich schreibe dir Schmerzmittel auf und eine Salbe für deine Arme." Der Arzt wendet sich seinem Schreibtisch zu und schreibt die beiden Sachen auf ein Rezept. Dann nimmt er mir Blut ab, verbindet meinen Fuß und erneuert ebenfalls den Verband um meine Hand, nachdem er auch die Wunde erneut versorgt hat. Mit Jimmy's Erstversorgung scheint er zufrieden, denn er fragt nicht weiter nach.

„Dann hole ich jetzt jemanden, der dich auf dein Zimmer bringt. Und du lässt dir am besten ein paar Sachen von zu Hause bringen. Zumindest für die eine Nacht." Ich nicke. Habe ich denn eine andere Wahl?

Er wünscht mir noch alles Gute, meint, er würde morgen Vormittag nochmal nach mir sehen, bevor ich nach Hause kann. Und ich weiß nicht, ob ich es als Hinweis oder Drohung sehen soll. Kaum hat er den Raum verlassen und ich meinen Pullover wieder übergezogen, kommt Jimmy wieder zu mir. Kurz berichte ich ihm, was wir besprochen haben, dann begleitet er mich zu meinem Zimmer.

„Was brauchst du denn alles von zu Hause?", fragt mich Jimmy, als wir alleine sind. Am liebsten wäre ich ihm direkt wieder um den Hals gefallen, doch die ganzen Schmerzmittel, die in mich hineingepumpt wurden haben mich extrem müde gemacht. Mich stört nicht einmal die harte Matratze.

„Bring einfach meinen Rucksack aus meinem Zimmer. Da ist alles drin, was ich brauche.", antworte ich.

„Alles klar. Ruh dich ein bisschen aus. Das war ziemlich viel heute." Jimmy beugt sich über mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Als er sich wieder aufrichten und gehen will, halte ich ihm am Saum seines T-Shirts fest und ziehe ihn wieder näher zu mir. Ich schlinge beide Arme, die wieder sicher in meinem Pullover stecken, um seinen Hals und presse meine Lippen auf seine. Ein zufriedenes Seufzen entfährt mir, als Jimmy den Kuss erwidert. Ich spüre das Lächeln seiner Lippen auf meinen. Mein Blut hat sich in Brause verwandelt – es blubbert wie wild durch mich hindurch. Mein Herz hämmert in meiner Brust und droht jeden Moment herauszuspringen. Wer hätte das Gedacht? Wer hätte noch vor drei Tagen – ach, was sage ich – vor vier Stunden, als wir zusammen in der Küche standen gedacht, dass sich dieser Tag so entwickeln würde. Immerhin war ich kurz davor meine Sachen zu packen und bei den Kellys auszuziehen. Wegen Jimmy, weil ich seine Sprüche und seine Launen nicht mehr ertragen habe. Wäre ich nicht die Treppe heruntergestürzt wäre Alles so gekommen und ich wäre jetzt über alle Berge. Vielleicht wäre mir noch klargeworden, was ich für Jimmy empfinde, wenn ich ihn nicht ständig gesehen hätte. Aber dann wäre es zu spät gewesen. Wir wären uns nie so nahe gekommen. Jimmy hätte mir nie erzählen können, was ihn zu seinen Gemeinheiten getrieben hat und ich wäre in dem Glauben geblieben, er würde mich hassen. Dabei tut er das überhaupt nicht, wie ich jetzt weiß. Und spüre. Oh mein Gott, wer hätte gedacht, dass Jimmy's Körper so perfekt zu meinem passt? Umso wichtiger ist es, dass er mich so kennt wie ich jetzt bin. Würde er meine Vergangenheit kennen, würde Alles auseinander brechen. Er würde mich von sich schieben und mich aus dem Haus jagen – schon wieder. Und das kann ich auf keinen Fall zulassen; muss mich weiter hinter meinen weiten Klamotten verstecken. Egal, was die Anderen denken. Ich will mir das hier nicht kaputt machen. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühle ich mich wieder zu Hause. So richtig zu Hause.

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