Kapitel 27

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- Jimmy -

Am liebsten würde ich Leo den restlichen Abend in meinen Armen halten und sie küssen. Doch sie fragt mich über den Tag aus; was wir gemacht haben, was es mit der anstehenden Tour auf sich hat und wie es dann mit uns weitergehen wird. So weit hatte ich noch nicht gedacht und bin daher bei dieser Frage etwas überrumpelt.

„Ganz einfach. Du kommst mit.", sage ich schließlich und zucke mit den Schultern. Leo nimmt den Kopf von meiner Brust und sieht zu mir auf. Ich habe einen Arm hinter meinen Kopf gelegt, die Beine gekreuzt und mit dem anderen Arm halte ich sie bei mir.

„Und wie soll das gehen? Ihr reißt durch Deutschland und ich warte den ganzen Tag im Hotel auf dich? Da kann ich genau so gut auch hier bleiben.", entgegnet Leo.

„Was? Nein, den Tag über zeige ich dir Alles, was es in der jeweiligen Stadt zu sehen gibt und abends kommst du mit in den Backstagebereich. Ich lasse dich garantiert nicht wie einen Groupie im Hotel sitzen.", antworte ich.

„Das klingt schön. Ich war noch nie weg aus Köln. Klingt irgendwie noch trauriger, wenn man es laut ausspricht." Leo kuschelt sich wieder enger an mich.

„Dann verbinden wir unsere Tournee mit deiner ersten Deutschlandreise. Ich bin mir sicher, dass wird super."

„Ja, bestimmt.", entgegnet Leo gedankenverloren. Was ihr wohl durch den Kopf geht? Macht ihr der Gedanke von hier wegzugehen vielleicht sogar Angst? Wenn ja – warum? Sie müsste froh sein. Sie wäre weg von hier; weg von ihrem Stiefvater. In meine Gedanken hinein schlafe ich ein.

Ein kalter Windstoß, welcher durch das offene Fenster hereinweht, weckt mich. Ich war so müde, dass ich mir nach dem Duschen kein Shirt mehr angezogen habe, sondern mich nur in Shorts zu Leo ins Bett gekuschelt habe. Ich stehe auf und schließe das Fenster. Als ich mich wieder zu meinem Bett umdrehe sehe ich, dass Leo nicht mehr da ist. Auf ihrer Seite sind die Laken zerwühlt und das Kissen ist nass geschwitzt. Vielleicht sind es auch Tränen. Egal was los war, sie sollte jetzt nicht alleine sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie friedlich in ihrem Bett liegt und schläft. Ich ziehe mir eine Jogginghose und einen Pullover über und durchquere den Flur. Leise öffne ich die Tür zu Leo's Zimmer, doch ihr Bett ist ordentlich. Nicht so, als hätte sie heute schon drin gelegen.

„Jimmy? Was machst du denn hier?" Erschrocken sehe ich zur Seite und sehe Barby, die aus dem Badezimmer gekommen sein und mich gehört haben muss. Wahrscheinlich dachte sie, ich sei Leo.

„Nichts, alles gut. Geh' wieder schlafen.", antworte ich meiner kleinen Schwester. Müde reibt sie sich übers Gesicht und tappst dann mit einem langen Gähnen in ihr Zimmer. Als sie die Tür geschlossen hat, schalte ich Leos Nachttischlampe an und sehe mich in dem Zimmer um. Gegen jede Vernunft öffne ich, ohne lange nachzudenken ihren Kleiderschrank. Erleichtert stelle ich fest, dass all ihre Klamotten auf den Regalbrettern liegen und der Rucksack an einem der Haken hängt. Ja, mir kam kurz der Gedanken, Leo könnte doch noch abgehauen sein. Keine Ahnung wie ich darauf komme, aber das ich falsch liege, da fällt mir schon ein riesiger Stein vom Herzen. Aber wo ist sie dann? Da kommt mir unserer erster gemeinsamer Moment in den Sinn. Damals bei dem Gewitter, als sie sich an den Scherben verletzt hat. Vielleicht hat Leo ganz einfach Durst bekommen und ist etwas zu Trinken holen gegangen.

Als ich die Lampe ausschalten will, entdecke ich ein Foto, welches im Lichtkegel auf dem Nachttisch liegt. Man könnte meinen, dass es Leo ist, die darauf abgebildet ist, doch das Datum unter der Ecke, verrät mir, dass dem nicht so ist. Es muss ihre Mutter sein. Kurzerhand stecke ich das Bild in die Bauchtasche meines Pullovers. Ganz vorsichtig, um keine Knicke daran zu machen natürlich. Dann verlasse ich den Raum und gehe nach unten, um nachzusehen, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege.

Doch auch in der Küche ist es stockdunkel.

„Leo?" Auch auf mein leises Rufen reagiert sie nicht. Ich atme tief und will mich schon auf den Weg nach oben machen, als ich die leisen Klänge eines Klaviers wahrnehme. Und da meine Geschwister alle im Bett sind und von ihnen auch keiner schlafwandelnd Klavier spielt, kann es sich dabei nur um Leo handeln.

Leise steige ich die Treppen zu unserem Proberaum hinab. Die Tür ist nicht richtig verschlossen, was es mir überhaupt erst ermöglicht hat, ihr Spielen überhaupt zu hören. Normalerweise verlässt kein Ton diesen Raum. Tatsächlich sitzt Leo mit dem Rücken zu mir am Klavier und entlockt diesem feine, saubere Töne. Ihre Finger fliegen nur so über die Tasten. Im seichten Licht erkenne ich, dass sie die Augen geschlossen hat und mit dem Oberkörper im Takt mit wippt. Es ist keine bekannte Melodie, aber das ist egal. Ich nehme mir auch manchmal meine Gitarre und spiele wirr irgendwelche Akkorde, nur klingt dass dann nicht, wie jahrelang einstudiert. Als Leo kurz innehält, denke ich schon, dass sie mich gehört hat, doch sie wartet nur die zwölf Schläge der Kirchenglocke ab, ehe sie die erste Töne spielt. Dieses Mal erkenne ich den Song allerdings nach wenigen Tönen. Wir selbst haben ihn als Kinder sehr oft gespielt – Hallelujah. Nur würde ich soweit gehen und behaupten, dass keiner meiner Geschwister den Song mit geschlossenen Augen so perfekt spielen kann, wie Leo es gerade tut. Wer war es nochmal, der behauptet hat, sie hätte keine Ahnung von Musik? Ach ja, richtig. Das war ja ich. Gott, ich war so ein Idiot!

„Das war das Lieblingslied meiner Oma. Sie hatte ein Klavier im Wohnzimmer stehen und hat es mir immer vorgespielt, al ich noch bei ihr gewohnt habe. Irgendwann wollte ich es genau so gut spielen wie sie und dann hat sie es mir beigebracht. Sie hätte heute Geburtstag." Leo's Stimme holt mich aus meinen Gedanken. Das sie den Song längst beendet hat und wieder irgendeine andere Melodie spielt ist mir nicht aufgefallen. Jetzt macht auch ihre Pause einen Sinn. Sie hat den Mitternachtsschlag abgewartet.

„Das war wunderschön.", sage ich leise und stelle mich hinter Leo.

„Sie hat es immer viel besser gespielt.", entgegnet sie und nimmt die Hände von den Tasten.

„Kann ich mir nur schlecht vorstellen." Ich beginne Leo die Schultern zu massieren. Leo lässt sich rücklings gegen mich fallen. Ich sehe ihr an, wie müde sie eigentlich ist, doch ich will ihr diesen Moment nicht kaputt machen. Wenn sie noch immer von ihren Albträumen heimgesucht wird, würde sie sowieso nicht viel Schlaf bekommen. Ich setze mich rittlings auf den kleinen Hocker neben sie und nehme sie dann auf die Arme. Mühelos trage ich Leo auf eines der Sofas im Nebenraum. Nicht besonders romantisch hier unten, aber besser als sitzen zu bleiben. In irgendeiner Ecke finde ich eine Decke, die ich über uns ausbreite, als wir uns nebeneinander auf das Sofa Kuscheln. Ich muss Leo ganz schön festhalten, damit sie nicht herunter plumpst.

„Erzähle mir von ihr.", fordere ich Leo nach einer Weile auf. Sie hat mir nun schon so viel von sich erzählt, aber nur die Schattenseiten aus ihrem Leben preisgegeben. Von der Zeit bei ihren Großeltern hat sie fast noch nichts erzählt. Gut, vielleicht kann sie sich nicht mehr an so viel erinnern, weil sie einfach noch zu klein war. Oder er sind Erlebnisse an denen sie festhält. Die ihr helfen, nicht an dem Rest zu zerbrechen.

„Ich habe bei den Beiden gewohnt bis ich sieben Jahre alt war. Meine Oma ist dann gestorben, was mein Opa nie so richtig überstanden hat und sich nicht mehr richtig um mich kümmern konnte. Die vom Jugendamt haben versucht meinen leiblichen Vater in Italien zu finden, doch als sie erfahren haben, dass meine Mutter mit einem anderen Mann verheiratet ist, bin ich zu dem gekommen." Leo atmet tief und dreht sich ein Stück.

„Meine Oma hätte das nie zugelassen. Ich weiß noch, dass ich fast täglich zum Friedhof abgehauen bin, um mit ihr zu reden. Unterwegs habe ich ihr immer Blumen gepflückt. Einmal hat mich der Friedhofsgärtner sogar mit eingeschlossen, weil er mich zwischen den Büschen nicht gesehen hat. Aber für mich war das nicht schlimm. Ich glaube ich dachte damals nur: Okay, dann schlafe ich heute eben bei meiner Mama und meiner Oma." Fast gleichzeitig müssen wir kichern.

„Jedes andere Kind hätte sich nachts auf dem Friedhof in die Hosen gemacht.", sage ich.

„Ich glaube, ich wurde so früh mit dem Tod konfrontiert, da war ich abgehärtet."

„Ich glaube ja, dass du extrem mutig bist. Leo, du bist das mutigste Mädchen, was ich je kennenlernen durfte." Ohne ihre Reaktion abzuwarten drück ich meine Lippen auf ihre. So liegen wir eng umschlungen und küssend auf dem schmalen Sofa im Proberaum, bis der Schlaf uns doch einholt.

Together we are strongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt