- Leo -
Die ganzen Wochen die ich nun schon hier untergekommen bin – von wohnen will ich noch nicht reden – habe ich mich noch nie so überflüssig gefühlt. Ich meine, Jimmy sitzt da unten mit seinem Stapel Papiere und ich liege hier und blättere lustlos durch das Buch. Meine Wahl war eindeutig die Falsche. Die Geschichte ist stinklangweilig. Außerdem geht mir Jimmy's verzweifelte Miene nicht aus dem Kopf. Warum? Er behandelt mich wie Luft, selbst dann noch, wenn er in seiner Arbeit erstickt. Trotzdem würde er meine Hilfe niemals annehmen, egal wie oft ihn seine Geschwister dazu raten würden.
Seufzend klappe ich das Buch zu. Mit dem festen Entschluss mich dieses Mal nicht einfach wieder wegschicken zu lassen gehe ich wieder nach unten. Jimmy wird mich zwar eh nicht beachten, trotzdem ziehe ich vorsichtshalber einen langen Pullover über. Sicher ist sicher.
Im Wohnzimmer schiebe ich das Buch zurück ins Regal. Dann gehe ich in die Küche, befülle zwei Gläser mit dem restlichen Orangensaft vom Frühstück, atme noch einmal tief durch und trete dann in das Esszimmer. Jimmy ist so in seine Arbeit vertieft, dass er mich erst bemerkt, als ich einer der Gläser vor ihm abstelle.
„Hey, pass doch auf! Willst du die Papiere ruinieren?", motzt er mich, wie zu erwarten an.
„Nein. Und ein einfaches danke hätte es auch getan.", antworte ich. Keine Ahnung woher mein plötzlicher Mut kommt. Sonst hätte ich bei diesem Spruch sofort das Weite gesucht. Ich ziehe einen Stuhl zurück und setze mich zu ihm an den Tisch. Mit einem Platz zwischen uns frei.
„Was wird das?", fragt mich Jimmy, als ich mir eines der Schreiben und in einen herumliegenden Briefumschlag nehme.
„Wonach sieht es denn aus?" Ohne die Härte in seiner Stimme zu beachten, die mir eine Gänsehaut über den gesamten Körper jagt, falte ich das Papier und stecke es in den Umschlag.
„Na gut. Wenn du nichts besseres zu tun hast." Kopfschüttelnd setzt Jimmy seine Unterschrift unter das nächste Schreiben und legt es auf den Stapel zwischen uns.
So sitzen wir am Tisch, bearbeiten die Post und schweigen uns an. Den Saft, den ich Jimmy mitgebracht habe, hat er noch nicht angerührt. Ob aus trotz, oder weil er einfach beschäftigt ist, weiß ich nicht. Zutrauen würde ich ihm beides. Es dauert nur eine halbe Stunde, bis das letzte Schreiben im Umschlag steckt und eine Briefmarke darauf klebt.
„Der Mist muss heute noch zur Post, wenn Alles rechtzeitig ankommen soll.", sagt Jimmy ohne mich anzusehen. Dann trinkt er sein Glas in einem Zug leer und stellt es wieder auf den Tisch. Völlig verdattert bleibe ich sitzen; ein Chaos aus Stiften, Papier und anderen Bürosachen auf dem Tisch verteilt und dazwischen die zwei leeren Gläser.
Seufzend stehe ich auf und räume zuerst die Gläser in die Spüle. Dann räume ich Jimmy den Schreibkram nach und hole meinen Rucksack. Vorsichtig verstaue ich die Briefe darin.
Als ich vor die Tür trete, sehe ich mich nach allen Seiten um, dann ziehe ich die Kapuze meines Pullovers über und vergrabe die Hände tief in der Bauchtasche. Mit gesenktem Kopf laufe ich durch die Straßen, auf der Suche nach einem Briefkasten.
Ich befinde mich schon auf dem Rückweg, als die Wolken zuziehen und es zu regnen beginnt. Als ich am Haus der Kelly's ankomme bin ich nass bis auf die Knochen. Zum Glück konnte ich die Post rechtzeitig einwerfen. Wären die Briefe nass geworden, hätte Jimmy mich einen Kopf kürzer gemacht.
Hektisch suche nach dem Haustürschlüssel, welchen Kathy mir gegeben hat, werde aber nicht fündig. So bleibt mir nichts anderes übrig, als zu klingeln. Zu meiner Erleichterung sind die Anderen indessen wieder da.
„Leo, was machst du denn bei dem Wetter draußen?", fragt mich Barby direkt, als sie mir die Tür öffnet.
„Die Post musste noch weg.", antworte ich und gehe an ihr vorbei nach drin.
„Aber bei dem Wetter? Das hätte doch auch noch bis morgen warten können." Ich ziehe die Kapuze vom Kopf und beinahe hätte ich hier an Ort und Stelle den Pulli ausgezogen. Nass und kalt klebt er an mir, wie eine zweite Haut. Im letzten Moment halte ich inne.
„Dein Bruder war da anderer Meinung.", erwidere ich und streiche mir ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht.
„Wer? Jimmy?" Fassungslos sieht Barby mich an und ich zucke nur mit den Schultern.
„Das ist doch ... wenn ich den in die Finger kriege!"
„Wenn du wen in die Finger kriegst?", fragt John, der soeben die Treppe herunterkommt. Mit niemand geringerem als Jimmy im Schlepptau. Na toll, jetzt bekommt er live mit, wie ich mich bei seiner kleinen Schwester über ihn ausheule. Ich hätte einfach die Klappe halten sollen!
„Unser liebes Brüderchen hier.", antwortet Barby und deutet auf Jimmy.
„Wieso? Was ist denn los?", will nun auch John wissen. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Jimmy's giftiger Blick klebt an mir wie meine nassen Klamotten und das Zittern meiner Hände kommt längst nicht mehr nur von der Kälte.
„Mach mal halblang. Ist doch nur ein bisschen Wasser. Sie hat es überlebt.", sagt Jimmy zu seiner Schwester, ehe diese John die Situation schildern kann.
„Warte mal, hast du nicht gesagt, Leo hätte die Briefe freiwillig zur Post gebracht?" Nun sind sämtliche Blicke auf Jimmy gerichtet. Einschließlich meiner.
„Ich wusste ja, dass du irgendwas gegen Leo hast, aber das ist echt 'ne Nummer für sich." Kopfschüttelnd sieht John seinen Bruder an und Barby steht mir verschränkten Armen vor mir.
„Hey, ist halb so wild. Es ist wie er sagte. Ist doch nur Wasser.", sage ich von mir selbst überrascht, dass ich Jimmy in Schutz nehme. Klar, es ist nicht okay von ihm die Tatsache so zu verdrehen und das ich hier der Störfaktor bin, weiß ich auch, aber ich will nicht das die Geschwister wegen mir streiten.
„Trotzdem, es geht ums Prinzip.", widerspricht John mir.
„Leo ist nicht unsere Sklavin. Und du brauchst auch nicht weiter versuchen sie hier heraus zu ekeln. Solange sie unsere Hilfe braucht bleibt Leo hier. Ist das angekommen?", fährt er seinen Bruder an.
„Klar, ist angekommen.", gibt Jimmy bitter zurück und lässt uns drei im Flur stehen. Schweigen herrscht zwischen uns.
„Ich gehe erstmal warm duschen.", sage ich schließlich. Ich muss dringend aus den Klamotten raus.
„Okay. Zum Abendessen gibt es Suppe. Die wärmt von innen.", sagt Barby, noch als ich schon die Stufen hinauf gehe.
„Du kannst gerne mit uns essen. Du musst nicht immer alleine in deinem Zimmer sein.", fügt sie hinzu. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Immer wieder versucht sie, oder auch John, mich dazu zu bringen mit ihnen gemeinsam zu essen. Eigentlich müsste ich das Angebot annehmen; gerade heute. Aus Rache, da ich weiß das Jimmy keinen großen Gefallen daran finden würde, mich mit am Tisch zu haben.
„ Ich überlege es mir.", sage ich dennoch nur.
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Together we are strong
Fanfikce‼️TRIGGERWARUNG‼️ Diese Geschichte enthält triggernde Inhalte, die eventuelle Spoiler für den Verlauf der Geschichte enthalten. Zudem zählen: Verlust der Eltern und anderer geliebter Personen, Kindesmissachtung, Trauer, Waffenmissbrauch und Verarbe...