Kapitel 26

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- Leo-

Nach meinen Erzählungen beschließen die Kelly's ihren Termin absagen, um sich meiner Sache anzunehmen. Doch ich konnte sie davon abbringen und überzeugen, zu fahren. Jimmy ist mit ihnen gegangen, auch wenn ich ihn fast aus dem Haus schieben musste.

Jetzt, da ich ganz alleine bin, fühle ich mich irgendwie fehl am Platz. Alleine in diesem riesigen Haus, in welchem es eigentlich nur so vor Menschen wimmelt. Wie auf einem Suchbild. Aber jetzt bin ich alleine und weiß nicht's mit mir anzufangen. Lustlos blättere ich im Wohnzimmer in einem Buch, bis ich es irgendwann zurück ins Regal stelle und wieder nach oben in mein Zimmer gehe. Dort fällt mir mein Rucksack ins Auge, welcher noch immer gepackt auf dem Schreibtischstuhl steht. Seit ich aus dem Krankenhaus raus bin, habe ich mir immer nur die Sachen rausgesucht, die ich gebraucht habe. Und da nun alle Angelegenheiten geklärt sind ist es wohl an der Zeit, meinen Kram wieder auszupacken.

Zum ersten Mal seit ich hier wohne liegen meine Klamotten ordentlich sortiert in dem Kleiderschrank, meine Bücher, welche ich mitnehmen konnte, stehen nebeneinander auf dem Schreibtisch und auch meine Hygieneartikel habe ich wieder im Badezimmerschrank ausgeräumt. Dieses Gefühl, in einem Museum zu leben, ist nun endgültig vorbei.

Zufrieden mit meinem Werk sehe ich mich in meinem Zimmer um und will dann meinen Rucksack ebenfalls in den Schrank stellen, als mir ein schwerer Gegenstand in einem der vorderen Fächer auffällt. Ich ziehe den Reißverschluss auf und greife hinein. Wenige Sekunden später halte ich ein Buch in der Hand. Eines meiner Lieblingsbücher, welches ich während meiner Schulzeit sicher schon dreimal gelesen habe und gar nicht wusste, dass ich es eingesteckt habe. Die Seiten sind ein wenig zerknittert und gewellt – wahrscheinlich nass geworden. Alleine bei dem Anblick des Covers wird mir warm ums Herz – eine junge Frau, die an ihren großen Reisekoffer gelehnt am Strand steht und in die untergehende Sonne sieht, welche sich im Meer spiegelt. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wohl am Meer ist. Wie es wäre, einfach von zu Hause zu verschwinden und ans Meer zu fahren. All die dunklen Stunden hinter mir zu lassen.

Ich setze mich auf mein Bett und blättere durch die Seiten. Sie riechen vertraut, nach dem Sonnenschein, welcher auf jeder Einzelner beschrieben wird. Zumindest stelle ich es mir genau so vor. Dieses Buch war meine Flucht aus der Realität. Ich konnte mich an wunderbare Sandstrände träumen, den Sand zwischen meinen Zehen spüren und dem Rauschen der Wellen lauschen. Und doch waren es immer nur Vorstellungen; Träume, die nie war werden. Immer wenn ich das Buch zugeklappt habe war ich wieder in dem kleinen Loch, welches ich mein Zimmer nennen durfte. Fort war der Duft nach Meer und machte dem nach Zigaretten und Alkohol Platz. Und statt des Sandes spürte ich die Schuhe an meinen Füßen, welche mir viel zu klein waren. Oder den alten, rauen Teppich.

Ich streiche über die Buchstaben des Titels – 'Neuanfang auf Italienisch'. Es war ein Geschenk meiner Großmutter, als ich noch in der Grundschule war und mich eigentlich noch nicht für diese Art von Büchern interessiert habe. Aber je älter ich wurde und je öfter ich es gelesen habe, habe ich verstanden, warum sie mir ausgerechnet dieses Buch geschenkt hat. In der Geschichte geht es um ein Mädchen, welches erfährt, dass sie schwer krank ist. Daraufhin beschließt sie, ihre verbleibende Zeit will sie nicht in Krankenhäusern verbringen, sondern sich die Welt ansehen. In Italien; genauer gesagt in Palermo; verliebt sie sich und verbringt ihre letzten Monate mit ihm im sonnigen Italien. Genau in dem Ort, wo meine Eltern sich damals kennengelernt haben – meine leiblichen Eltern. Keine Ahnung wie oft ich kurz davor war, ebenfalls aufzubrechen und nach Italien zu verschwinden. Meinen leiblichen Vater zu suchen. Doch so ganz ohne Anhaltspunkte ... ich hatte ja nicht einmal seinen Namen.

Als ich das Buch auf meinen Nachttisch legen will, fällt mir etwas in den Schoß. Ich hebe das Papier auf und drehe es um. Ich schlage mir die Hand auf den Mund, um das Schluchzen darin zu ersticken. Sinnlos, ich bin ja eh alleine. Meine Sicht verschleiert sich immer mehr, je länger ich auf das Foto sehe. Ich blicke direkt in die Augen meiner Mutter und es ist, als würde mir ein Spiegel vorgehalten. Auch wenn das Bild eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme ist erkenne ich deutlich, dass ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Ich hatte total vergessen, dass ich dieses Foto in das Buch gelegt hatte, welches ich besser geschützt habe, als meine Augäpfel. Wenn mein Stiefvater mitbekommen hätte, wie viel es mir bedeutet, hätte er sich damit wahrscheinlich eine warme Wohnstube gemacht. Oder es vor meinen Augen in tausend klitzekleine Stücke gerissen. Doch hier ist es in Sicherheit.

Ich drücke es fest an meine Brust, das Foto noch immer in meiner Hand und lehne mich damit an die Wand hinter meinem Bett. Gedankenverloren blättere ich durch die Seiten und entdecke von mir markierte Stellen im Text wieder. Zeilen wie: Das Rauschen des Meeres ist wie Musik in meinen Ohren. Einer der schönsten Songs, den ich je gehört habe. Oder: Der volle Mond spiegelt sich in seinen blauen Augen, die mich vom ersten Augenblick in seinen Bann gezogen haben, gegen den ich mich so sehr gewehrt habe. Witzig, genau so war es mit Jimmy. Doch war es nicht ich, die sich uns in die Quere gestellt hat, sondern er. Und wir haben uns auch nicht auf einem italienischen Wochenmarkt kennengelernt, sondern im kalten Winter in Deutschland.

So lese ich meine markierten Passagen und merke erst, dass es schon ziemlich spät sein muss, als es draußen dunkel wird und ich die Buchstaben nicht mehr richtig erkenne. Da ich keine Ahnung habe wann die Kelly's nach Hause kommen werden, gehe ich nach unten und beginne mit den Vorbereitungen für das Abendessen. Ich decke den Tisch und suche die Lebensmittel aus den Schränken. Dabei kommt mir immer wieder diese Melodie in den Kopf. Die, die Jimmy an jenem Abend auf seiner Gitarre gespielt habe, als ich mich zu ihm ins Zimmer geschlichen habe. Ich habe keine Ahnung warum; es sind immer nur ein paar Zeilen, aber die haben sich in meinem Kopf festgesetzt und ich frage mich, ob Jimmy den Song indessen fertig hat. Muss ich ihn unbedingt frage, wenn wir uns nachher noch sehen.

„Oh man, ich bin fix und fertig.", höre ich da auf einmal Maite sagen, die sich auch gleich darauf im Wohnzimmer auf das Sofa fallen lässt. Obwohl ich die ganze Zeit am Fenster gestanden habe, habe ich die Kelly's nicht nach Hause kommen hören. Sicher war ich mit meinen Gedanken zu weit weg.

„Morgen noch die letzten Aufnahmen, dann haben wir es ja geschafft.", antwortet John ihr lachend und setzt sich neben seine kleine Schwester.

„Schön wär's. Wenn das Album erstmal draußen ist können wir uns gleich an die Planung für die Tour im Sommer setzten.", entgegnet Paddy. Ich beobachte sie Alle eine Weile vom Türrahmen aus, wie einer nach dem Anderen ins Wohnzimmer kommt – kaputt vom langen Tag und jetzt schon in Gedanken beim Nächsten. Ein bisschen wie in einem Hamsterrad. Wie mein Alltag früher; ich bin aufgestanden, zur Schule gegangen, dann den Nachmittag totgeschlagen, nur um am Abend wieder zurück zu meinem Stiefvater zu gehen. Mit dem Unterschied, dass die Kelly-Geschwister diesen stressigen Alltag eigentlich lieben – das Zusammensein und Musizieren. Nur manchmal will man einfach eine Pause, ob es nun passt oder nicht.

Mit einem Räuspern mache ich auf mich aufmerksam.

„Wie wäre es mit Abendbrot?", schlage ich vor und deute auf den gedeckten Tisch.

„Also eigentlich ...", beginnt Kathy, wird aber von John unterbrochen, der mir dankbar zulächelt und sich auf seinen Platz setzt.

„Wenn wir dich nicht hätten.", sagt er und lädt sich seinen Teller voll.

„Stimmt, wie ruhig die letzten Wochen dann gewesen wären.", sagt Paddy und wirft Jimmy einen Blick zu, welchen ich nicht ganz deuten kann.

„Und die nächsten Wochen würden auch ruhiger sein.", entgegnet Joey mit einem schiefen Grinsen, welches definitiv das sagt, was ich denke. Gott, wie peinlich. Immerhin bekommt er dafür von seinem Bruder eine Kopfnuss.

„Joey, es sind Kinder im Raum.", sagt er und deutet auf seine jüngeren Geschwister.

„Wir sind keine Kinder mehr.", beschwert sich sofort Paddy und Maite und Angelo nicken nur.

„Ja, ja. Komm, wir gehen nach oben." Ohne meine Reaktion abzuwarten nimmt Jimmy meine Hand und ich folge ihm in den Flur.

„Hast du gar keinen Hunger? Immerhin ward ihr den ganzen Tag unterwegs.", sage ich und deutet zum Esszimmer. Jimmy beugt sich zu mir herunter und drückt seine Lippen auf meine. Ich erwidere seinen Kuss, schlinge beide Arme um seinen Nacken und auch Jimmy's Hände finden schnell ihr Ziel. Nämlich meinen Hintern.

„Das war das Einzige, worauf ich hungrig war.", sagt er, als wir uns nach einer Weile, die für meinen Geschmack viel zu kurz war, voneinander lösen.

„Wir haben unterwegs schon was gegessen. Sie wollen dir wahrscheinlich einen Gefallen tun.", sagt er, als er meinen fragenden Blick sieht.

„Komm, gehen wir." Wieder greift er nach meiner Hand, doch ich lasse mich nicht mit nach oben ziehen.

„Was ist los? Alles okay?" Besorgt sieht Jimmy mich an.

„Ja, alles okay. Lass uns gehen.", antworte ich und nun bin ich es, die Jimmy hinter sich herzieht.

Together we are strongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt