Gezwungen - 1. Kapitel

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Die Sonne füllte jeden Winkel der Gassen und Straßen von Arad. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag. Am liebsten hätte sich Liana irgendwo in ein kleines Café gesetzt und das Wetter genossen, doch das ging nicht. Nicht in diesem Leben. Die Straßen waren staubig und viele Menschen hatte es zum Markt aus den Häusern getrieben. Perfekt.

Lia zog sich die Kapuze ihres schwarzen Pullovers tiefer ins Gesicht, obwohl sie schon aus allen Poren schwitzte. Ihre lange, an manchen Stellen zerrissene Hose half da nicht gerade. Sie sah sich erneut nach ihrem Bruder Sorin um. Er trug den gleichen Pullover wie sie. Sie tauschten einen Blick. Er nickte zu einer jungen Frau, die rote Haare hatte und um deren Hals viele Ketten baumelten. Lia nickte zurück. Sorin bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und Lia tat es ihm gleich. Was jetzt kam, war ein jahrelang eingespieltes Schauspiel. Ganz zufällig rempelte Sorin die junge Frau an und zog dabei das Portemonnaie aus der Tasche. Während er sich überschwänglich entschuldigte, ging Lia ganz dich an ihm vorbei, tat so, als interessiere sie nicht, was da vor sich ging, schnappte sich den Geldbeutel und ließ ihn unter ihrem Pulli verschwinden. Sie ging so schnell, dass es noch nicht merkwürdig aussah, in eine Seitenstraße. Viele Menschen hasteten, weil sie einen Termin oder dergleichen hatten, weshalb sie nicht weiter auffiel. Von neugierigen Blicken geschützt holte Lia das Portemonnaie wieder hervor und machte es auf. Zum Geldzählen blieb keine Zeit, aber man konnte schon auf den ersten Blick erkennen, dass es viel war. Ein paar Minuten tauchte Sorin ebenfalls in die Schatten der Gasse. Lia gab ihm das Geld und schmiss den Geldbeutel in den Staub der Straße. Er war wertlos. Zwar schön gearbeitet, aber wertlos. Das Gold war nicht echt und die Qualität schlecht. Sorin steckte die Scheine in seine Hosentasche und blickte sich um.
„Okay", sagte er, „du gehst schon mal nach Hause. Ich besorg uns was zu essen." Damit drehte er sich um und verschwand wieder im Getümmel. Lia machte sich auf den Weg in die andere Richtung.

Das Zuhause, wie Lia und ihre Geschwister es so schön nannten, war nichts als eine Lagerhalle einer alten, verwitterten Fabrik, die schon lange nichts mehr produzierte und etwas außerhalb der Stadt lag. Der kürzeste Weg dorthin führte über ein Feld. Das einstöckige Gebäude erstreckte sich über hunderte von Quadratmetern. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich hier fünf Kinder, beziehungsweise Jugendliche versteckten, zumal es offiziell einsturzgefährdet war. Und wenn doch, hätte es lange gedauert, die ganze Lagerhalle zu durchkämmen - die Arbeit wollte sich keiner machen.
Efeu rankte sich an den Fassaden empor und die Fenster bestanden schon viele Jahre ohne Glas. Viele Metallstangen waren verrostet. Der Eingang, durch den Lia kroch, war hinter Büschen und Gestrüpp verborgen. Dahinter empfing sie Schatten. Ihre Augen mussten sich erst einmal an das neue Licht gewöhnen. Dann lief sie mit ihren ausgetretenen Turnschuhen zu dem kleinen Deckenlager, das sich die fünf gebaut hatten und das sie durch einfache Holzwände von fremden Blicken abschirmte, sollte sich doch mal ein neugieriges Augenpaar hier hin verirren. Von Kindern zum Beispiel, die sich den Warnungen der Eltern widersetzen wollten. Lia schaute sich noch ein letztes Mal um, eher für das Sicherheitsgefühl, denn es war noch nie vorgekommen, dass jemand auf sie lauerte, und trat dann hinter die Abschirmung. Dort saßen sie und blickten auf, als sie kam: Elisei, ihr elfjähriger Bruder, Florica, ihre acht Jahre alte Schwester, und in Eliseis Armen Oana, Lias Tochter, die gerade mal dreizehn Monate lebte. Lia selbst war neunzehn Jahre alt und ihr Bruder Sorin fünfundzwanzig. Alt genug zum Arbeiten waren Sorin und Lia allemal, aber sie durften nie in die Schule gehen oder eine Ausbildung genießen. Abends ging Sorin dreimal die Woche in einer Bar arbeiten, aber das reichte längst nicht aus, um viereinhalb Mäuler zu stopfen. Sorin und Lia versuchten möglichst viel durch das Stehlen zu gewinnen, aber nicht jeden Tag hatten die beiden so viel Glück wie heute.
Lia beugte sich hinunter und gab Elisei und Florica jeweils einen Kuss auf die Stirn.
„Wir haben heute einen guten Fang gemacht", erzählte sie und zog ihren Pullover aus, um Oana zu stillen. „Ich weiß nicht, wie viel, aber es waren schon einige Scheine. Sorin ist noch was zu essen kaufen." Sie nahm ihrem Bruder Oana aus dem Arm und legte sie sich an die Brust.
„Lia?", fragte dieser.
„Ja?"
„Warum dürfen wir nicht helfen?"
Lia seufzte. Wie oft hatten sie schon gefragt, warum sie nicht raus durften? Zu oft.
„Da draußen lauern Kinderfänger. Sie warten nur darauf, dass sie euch in die Finger bekommen, um euch zu verkaufen oder zum Diebstahl zu zwingen. Wenn ihr sechzehn seid, dann dürft ihr mitkommen, aber momentan ist das einfach noch zu unsicher", erklärte sie, und doch wusste sie ganz genau, dass sie morgen erneut dasselbe würde sagen müssen, und übermorgen, und überübermorgen, und die Tage darauf auch.
Gerade als sie ihren Pullover wieder anzog, kam Sorin und ließ sich erschöpft auf eine der von Mäusen zerfressenen Decken fallen.
„Soso!", rief El erfreut. Zu ihm hatte er schon immer ein besseres Verhältnis gehabt, als zu Lia. „Spielen wir heute wieder Fußball?"
Lia nahm sich die Einkaufstüte, die Sorin mitgebracht hatte, und schaute hinein. Ein vorgeschnittenes Brot, Dosensuppe, Trockenfleisch und Wasserflaschen befanden sich darin.
„Ja klar", meinte Sorin und zog sich den Pullover aus. „Man ist das heiß!"
„Ich will auch mitspielen!", begeisterte sich Flori. Das war der Vorteil, wenn man in einer großen Lagerhalle wohnte: Man konnte drinnen Fußball spielen und brauchte keine Angst zu haben, entdeckt zu werden, und wenn was kaputt ging, war das auch kein Problem, denn es störte sich keiner daran.
Lia baute Oana ein Nest aus Decken und legte sie hinein. Während sie schlief, aßen Flori, El, Soso und Lia erst was und holten dann den Fußball hervor. Sie spielten nicht nur zum Spaß. Vielmehr deshalb, weil sie bei gemeinsamen Spielen für kurze Zeit vergessen konnten, wo sie lebten und wie sie leben mussten. Sie konnten kurz vergessen, dass es keine Hoffnung gab.

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