Gezwungen - 17. Kapitel

216 16 0
                                    

Sorin und Elisei sah sie nun kaum noch. Ihr großer Bruder war fest entschlossen, das Geldproblem allein auf die Reihe zu bekommen, was zur Folge hatte, dass die beiden von morgens bis abends in der Stadt waren. Da ihre Beziehung zu Cosmin nun feststand und sie hoffte, das sie das tat und auch in Zukunft tun würde, beschloss Lia, ihm Florica und Oana vorzustellen. Immer wieder durchliefen sie Schauder der Wohltat, wenn sie an die vergangene Nacht dachte. Sie vermisste seine Nähe, obwohl sie bisher bloß wenige Stunden getrennt waren. Jemanden zu lieben war wie ein Abenteuer, auf das man sich einlassen musste, und das man so nehmen musste, wie es kam.
„Wo gehen wir denn hin?“, fragte Florica neugierig.
„Ich will euch jemanden vorstellen“, erklärte sie wage.
„Wen denn?“
In den letzten Tagen hatte sie ihre Schwester besser kennengelernt, als in den Jahren zuvor. Sorin und sie hatten wirklich was verpasst, dadurch, dass sie nie da gewesen waren. Elisei kannte sie auch noch nicht wirklich, wobei er schon viel lebhafter war, als ihre Eltern noch da waren und sie ernährt hatten. „Meinen Freund“, antwortete Lia und lächelte bei dem Gedanken.
„Ich wusste gar nicht, dass du Freunde hast“, bemerkte Flori und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Es war traurig, aber wahr. Wenn man so lebte, wie sie es taten, hatte man keine Freunde. Jeder andere, mit dem man verkehrte, war entweder die eigene Familie oder Konkurrenz. Jeder lebte in seiner eigenen Welt. Keiner interessierte sich für die Beziehung zu anderen Menschen. Solche Gefühle wurden zu leicht von Sorgen und Problemen erstickt. Lia wurde bewusst, wie viel Glück sie eigentlich gehabt hatte, auf Cosmin getroffen zu sein.
Florica und Oana machten große Augen, als sie die große Villa sahen. Ihrer Tochter entfuhr ein leises „oh“. Lia klingelte an der Eingangstür. Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde und Cosmin dahinter erschien. Augenblicklich, als er sie sah, breitete sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht aus, das Lia unwillkürlich erwiderte.
„Ähm, hi“, begrüßte sie ihn.
„Hallo“, sagte er sanft.
„Ich hab dir jemanden mitgebracht.“ Sie zog Florica hinter ihrem Bein hervor, wo sie sich versteckt hatte. Sie hatte Angst vor Fremden, weil sie es so gelernt hatte. Lia tat es leid. „Das ist Florica, meine Schwester und das ist Oana, meine... Tochter.“ Plötzlich hatte sie doch Zweifel. Wenn er von nun an ihr Freund sein würde, wäre er auch fast so etwas wie Vater. Vielleicht wollte er das gar nicht und würde lieber auf Abstand gehen.
Aber all ihre Bedenken lösten sich in Luft auf, als Cosmin lächelnd zur Seite trat und sie bat, hereinzukommen. Sie gingen gemeinsam in die große Bibliothek, wo sich Flori mit noch größeren Augen umsah. Verständlich: Liana hatte genauso reagiert, als sie das erste Mal den riesigen Raum mit den vielen vielen Büchern betreten hatte. Sie ließ Oana auf den Boden, die sich aber keinen Zentimeter bewegte. Sie krallte sich an ihr Bein und sah sich ängstlich um. Sie war zu klein, um zu verstehen, was vor sich ging.
„Tja... es freut mich, dass ihr da seid. Setzt euch doch.“ Cosmin zeigte auf das Sofa.
Lia nickte, hob Oana wieder auf und nahm Platz. Ihre Tochter betrachtete Cosmin misstrauisch.
„Wollt ihr was trinken?“, fragte er.
„Ja, gerne“, antwortete sie und lächelte, während Oana ihren kleinen Kopf an ihrer Schulter vergrub. Cosmin verließ das Zimmer.
„Lia, guck mal, das sind ganz viele Bücher“, bemerkte Florica und betrachtete die gefüllten Regale mit großen Augen.
„Da hast du recht. Oana, willst du nicht auch mal gucken gehen?“ Sie blickte zu ihrer Tochter, aber diese schüttelte nur den Kopf. In der Hoffnung, dass sie ihre Angst überwinden würde und zu ihnen kommen würde, setzte Lia sie auf das Sofa und stand auf, um zu Florica zu gehen. „Und in jedem von ihnen steckt eine einzigartige Geschichte.“ Sie zog eines der Bücher in den unteren Regalen hervor und schlug es auf. „Man muss nur lesen können, dann öffnet sich einem diese riesige Welt von Träumen.“ Sie setzte sich auf den Boden und betrachtete das Buch. Der Umschlag war dunkelbraun und verziert mit goldenen Mustern. Da sie nicht lesen konnte, wusste sie auch nicht, wie das Buch hieß. War es ein Märchenbuch, wie das, aus dem ihr Cosmin vorgelesen hatte? Bisher hatte Lia sich immer mehr gewünscht. Ein großes, undefiniertes Mehr. Aber nun kristallisierten sich langsam konkrete Wünsche heraus. Sie war sich ziemlich sicher, dass es an Cosmin lag. Sie wollte mit ihm zusammen leben. Sie wollte einen Job. Und sie wollte lesen lernen. Je mehr sie von dem normalen Leben lernte, desto dringlicher wollte sie dieses Leben, desto größer wurde die Sehnsucht danach.
Als Cosmin wiederkam, hatte er nicht nur ein Tablett mit Gläsern und Getränkeflaschen dabei, sondern auch ein kleines Stofftier, das die Gestalt eines Bären darstellen sollte. Er setzte sich zu Oana auf das Sofa und zeigte es ihr. Zuerst konnte er damit nicht viel erreichen, doch irgendwann siegte die Neugier. Liana freute sich, als sie ihre Tochter lachen hörte.
„Hey, was ist das?“, fragte Florica neugierig und lief zu ihnen, um zu schauen.
Lia stellte das Buch zurück und lehnte sich an das Regal. Es war wie ein Traum, aber das Schöne daran war, dass es keiner war. Es war echt.

Gezwungen #BestsellerAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt