Gezwungen - 10. Kapitel

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In dieser Nacht beschloss sie, nie wieder zurückzukehren. Indem sie mit ihm verkehrte, brachte sie ihre gesamte Familie in Gefahr. Auch wenn sie nicht glaubte, dass Cosmin sie verraten würde, konnte immer etwas passieren. Zum Beispiel könnte ihr sein Vater auf die Schliche kommen, oder irgendwas. Man mochte sie für paranoid halten, aber es war nur Sorge um ihre Geschwister und ihre Tochter, die sie so handeln ließ. Und Angst. Langsam musste sie selbst zugeben, dass sie etwas für ihn empfand, dass sie ihn mochte, aber sie würde es ignorieren. Sie würde ihn vergessen und sich nur noch auf die wichtigen Dinge konzentrieren. So lautete zumindest der Plan.
Aber wenn sie durch die Straßen lief, ertappte sie sich dabei, wie sie nach ihm Ausschau hielt. Vielleicht ging er gerade einkaufen. Wenn sie abends in der Bar arbeitete, ertappte sie sich dabei, wie sie hoffte, dass er kommen würde. Doch er kam nicht und das war auch gut so.
Und dann musste Lia zu einem Alkoholiker, den gerade seine Frau verlassen hatte. Er schrie die ganze Zeit wütend herum und kippte ein Bier nach dem anderen herunter. Um ein Uhr morgens wollte er mit ihr nach oben. Sie wollte nicht. In ihrem Innern regte sich ein unterschwelliges Gefühl, dass das ganze nicht gut ausgehen würde. Aber sie hatte keine Wahl. Und sie hatte recht. Lia wusste nicht, ob sie gehen durfte, wenn er sie schlug, aber sie vermutete, dass das Toma nicht im Geringsten juckte. Er würde ihr nur wieder den Gehalt entziehen.
Es tat weh. Der Mann war schon so in seinem Delirium, dass er Lia für seine Frau hielt und sie dafür bestrafte, dass sie ihn verlassen hatte. Er schlug sie, er band sie am Bettpfosten fest. Die Fesseln schnitten scharf in ihre Handgelenke. Ihre Nase blutete und sie war sich sicher, dass manche Körperstellen anschwollen. Er nahm sie hart und riss an ihren kurzen Haaren. Sie weinte, aber Rücksicht war dem Mann offensichtlich fremd. Lia biss sich auf die Lippe, damit sie nicht schrie, und versuchte, es irgendwie über sich ergehen zu lassen. Er ging schließlich und ließ sie weinend auf dem Bett zurück. Wenigstens hatte er sie wieder losgebunden, aber in diesem Moment wollte Lia nichts anderes, als tot zu sein. Nie hatte sie dieses Leben so sehr gehasst. Diese Hilflosigkeit, dieses Gefängnis.
Irgendwann stand sie auf und schleppte sich die Treppe hinunter. Sie ignorierte Toma, der hinter der Theke stand und Gläser polierte und ihr irgendwelche Bemerkungen zurief. Mehr schlecht als recht schlurfte sie in das kleine Zimmerchen, zog sich an und wusch sich das Gesicht.
Licas fragte sie mit besorgten Blicken, ob alles in Ordnung sei, aber sie antwortete nicht. Es war nicht alles in Ordnung. Es war nichts in Ordnung. Ein Gefühl sagte ihr genau, wo sie jetzt hingehen musste. Sie konnte so nicht zu ihren Geschwistern. Sie würden Fragen stellen und sie würde es ihnen erklären müssen. Nein, in die Lagerscheune konnte sie nicht. Sie stolperte durch die dunklen Straßen, die allein die Dämmerung in schwaches Licht tauchte, bis sie endlich in dem Garten ankam. Mit letzter Kraft zog sie sich auf den Balkon hinauf und hoffte nur, dass sie ihn in der Bibliothek antreffen würde. Und tatsächlich schien das Licht einer Lampe durch die gläserne Tür. Dort saß er in einem der Sessel, ein Buch auf seinen Knien und eine Brille auf seiner Nase. Lia wurde ganz warm ums Herz, als sie ihn dort sitzen sah. Sie klopfte nicht, sondern beobachtete ihn einfach nur. Es half schon, dass sie sich wenigstens ein bisschen beruhigen konnte. Das dunkle Haar fiel ihm sanft in die Stirn und die Lesebrille machte es ihr schwer, sich zusammenzureißen. Glücklicherweise trug er heute ein T-Shirt, sonst hätte sie sich wahrscheinlich nicht zurückhalten können. Für den Moment konnte sie alles vergessen.
Doch irgendwie schien er zu merken, dass er beobachtet wurde, denn er blickte auf und entdeckte sie. Sie lächelte, auch wenn es wahrscheinlich ein ziemlich trauriges Lächeln war. Augenblicklich legte Cosmin das Buch auf den Tisch und sprang auf. Er kam zur Tür und öffnete sie.
„Hey, was machst du denn hier?“, fragte er überrascht.
Lia zuckte bloß mit den Schultern.
„Geht es dir gut?“ Sein besorgter Tonfall berührte etwas in ihr. Das hatte Sorin auch immer in ihr berührt, wenn er nach ihrem Befinden gefragt hatte. Es war das Gefühl des Glücks, eine Familie zu haben, und Menschen, die sie liebten und sich um sie sorgten.
Lia nickte, aber die Worte, die über ihre Lippen kamen, sagten etwas anders. „Nein, es ist nichts in Ordnung.“
In diesem Moment entdeckte er die Prellung an ihrer Wange. Er hob die Hand und berührte sie ganz leicht. Lia entzog sich ihm.
„Was ist passiert?“, flüsterte er leise. Er war geschockt.
Sie wollte nicht darüber reden und schüttelte den Kopf. Im Nachhinein fragte sie sich, wieso sie überhaupt hergekommen war. Und dann kam alles wieder hoch. Die Tränen schossen mit solcher Wucht in ihre Augen, dass sie zusammenzuckte. Ein Schluchzen entschlüpfte ihrer Kehle. Cosmin packte sie an den Schultern und zog sie ins Innere der Bibliothek, bevor er seine Arme fest um sie schloss. Da wusste Lia ganz genau, weshalb sie hergekommen war: nämlich genau wegen dieser Umarmung. Sie brauchte sie und sie brauchte ihn.
Keiner von beiden könnte sagen, wie lange sie so dastanden, aber beide genossen die Umarmung und die Nähe des anderen. Selbst, als die Tränen längst versiegt waren, wollte Lia nicht, dass es aufhörte. Sie wollte nicht schon wieder die Kälte des Lebens sondern die Wärme und Geborgenheit spüren, die ihr diese Arme schenkten. Es ging bei der Umarmung nicht nur darum, sie zu trösten, sondern auch darum, dass in diesem Moment sowohl Lia als auch Cosmin vollkommen losgelöst von jeglichen Schranken waren und sie einfach zusammen sein konnten.
Es kam ihr so unwirklich vor, ihre Nase an sein Shirt drücken zu können, um seinen Duft einzuatmen. Viel zu schön, um wahr zu sein. Und die Konturen seiner Hüfte an ihren Armen zu spüren. Wie in einem anderen Leben. Seinen Herzschlag zu hören. Und seine Lippen auf ihrem Kopf zu fühlen.
Cosmin. Sie wiederholte den Namen im Geiste, konnte aber noch immer nicht glauben, dass sie ihn kennengelernt hatte und nun hier stand. Und doch war es so.
„Ich kann dir eine Dusche oder ein Bad anbieten.“ Cosmins Stimme drang wie durch Nebel in ihren Kopf. Weitere Momente verstrichen, ehe die Bedeutung seiner Worte in ihr Bewusstsein sickerten. Sie fragte sich, wie lange es nun bereits her war, dass sie das letzte Mal geduscht oder sich wenigstens sauber gefühlt hatte. Es mussten Ewigkeiten sein. Den Wunsch oder die Hoffnung auf eine Dusche hatte sie sich bereits vor Jahren abgeschrieben.
„Ja“, sagte sie leise, „sehr gerne.“ Die Situation wurde immer mehr zum Traum.
„Okay.“ Als sich Cosmin von ihr löste, war ihr erster Reflex, ihn festzuhalten, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Er führte sie in das an die Bibliothek angrenzende Bad und schaltete den Wasserhahn der Badewanne ein. Das Badezimmer war groß und genauso schmucken eingerichtet wie der Rest des Hauses. Sowohl Waschbecken, als auch Badewanne und Toilette waren aus Keramik und etliche Kanten und Ecken waren vergoldet. Da Lia keine Kräfte mehr hatte setzte sie sich an Ort und Stelle auf den Fußboden. Cosmin kniete sich vor sie und griff nach ihrem Pullover. Sie zuckte zusammen und sträubte sich zunächst, aber er ließ sich nicht beirren.
„Ich hab dich sowieso schon halbnackt gesehen“, meinte er leise. „Bitte lass mich dir helfen.“
Sie widersprach nicht, sondern ließ zu, dass er sie auszog. Lia kannte es von Männern, dass sie sie lüstern anstarrten, aber er tat das nicht.
„Tut es sehr weh?“, fragte er schließlich und deutete auf eine Stelle an ihrem Bauch. Sie senkte ihren Blick und entdeckte eine handgroße Schwellung an ihrer Hüfte, die bereits einen violetten Farbton angenommen hatte. In diesem Moment begann sie auch zu schmerzen. Lia nickte. Cosmin stand auf und hob sie in die bereits zur Hälfte gefüllte Wanne. Das Wasser war warm und ihr entwich ein Seufzer der Wohltat. Sie konnte sich nicht erinnern, je etwas so wohltuendes auf der Haut gespürt zu haben. Cosmin setzte sich an das Ende, an dem ihr Kopf lag, nahm sich den Duschkopf und begann, ihr Haar zu waschen. Seine Finger massierten ihre Kopfhaut und Lia schloss die Augen. Sie war sich sicher, sich in diesem Moment verlieren zu können. Fast war sie enttäuscht, als ihre Haare schließlich gewaschen waren, obwohl er sich schon sehr viel Zeit gelassen hatte. Er trocknete seine Hände und ging zu einem schmalen Schränkchen.
„Das ist eine Salbe, die du dir auf deine Schwellungen machen kannst“, erklärte er und stellte die Tube auf ein kleines Tischchen. Dann verließ er plötzlich den Raum und Lia bekam sofort Angst. Wollte er sie alleine lassen? Die Zeit, bis er wiederkam, kam ihr wie Stunden vor, und sie überlegte bereits, ihn suchen zu gehen, aber da öffnete sich die Tür wieder. Er hielt zwei Stoffe in der Hand. Der eine war ein Handtuch, mit dem sie sich später abtrocknen könnte. Der andere jedoch entpuppte sich als ein wunderschönes Kleid mit Blumenmuster und Spitze.
„Aber wenn du Hilfe brauchst oder so, kannst du einfach rufen, okay? Ich bin direkt nebenan.“ Cosmin deutete auf die Tür zur Bibliothek.
„Bitte bleib.“ Ihr Stimme klang vom vielen Weinen ganz rau. „Kannst du... kannst du mir was vorlesen?“ Ihr hatte noch nie jemand vorgelesen. Sorin hatte manchmal Geschichten erzählt. Er hatte es nie gut gekonnt, aber es war immer schön gewesen. Sie besaßen keine Bücher und auch ihr Bruder konnte fast nichts lesen. Cosmin nickte und verschwand. Er kam mit seiner Lesebrille und einem Märchenbuch zurück, wie er ihr erzählte. Und dann las er. Es handelte von einem Fischer, der unwissentlich sein ungeborenes Kind dem Teufel versprach, um seinem Kaiser zu dienen. Der Junge jedoch konnte dem Teufel entgehen, indem er aus einem Büchlein betete. Dadurch konnte er auch eine gefangene Königstochter befreien, die er heiratete und von der er ein gesamtes Königreich erhielt. Cosmins Stimme konnte man gut zuhören. So gut, dass Lia bald darüber einschlief.

Für alle, die das Märchen vollständig lesen wollen: http://www.sagen.at/texte/maerchen/maerchen_rumaenien/fischerknabe.html

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