Gezwungen - 20. Kapitel

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Sorin gab nach langem Überreden schließlich doch nach. Lange hatte er sich gesträubt, Cosmin noch einmal zu treffen, aber als er merkte, wie wichtig es für Lia war, entschied er sich dazu, ihr diesen Gefallen zu tun. Einen weiteren Streit wollte er nicht riskieren, besonders, nachdem sie sich gerade erst wieder vertragen hatten.
Als Cosmin die Tür öffnete und ihn bemerkte, zog er überrascht die Brauen hoch. Glücklicherweise hatte er heute ein Shirt an. „Hallo, was kann ich für dich tun?“, fragte er höflich.
Sorin fiel ein, dass Cosmin gar nicht wissen konnte, wer er war. Gesehen hatte er ihn schließlich noch nicht. „Hallo, ich bin Sorin, Lias Bruder“, stellte er sich vor. Das erste Mal fragte er sich, was wohl andere, die ihn sahen, von ihm dachten. Sein Pullover war staubig und schmutzig. Das Bächlein, in dem sie ihre Sachen ab und zu wuschen, war nicht das klarste und in der Umgebung, in der sie lebten, hatten sie nur geringe Chancen, sauber zu bleiben. Wer auch immer ihn sah, wusste auf den ersten Blick, dass er nicht zur adeligen Schicht gehörte. Anders als Cosmin. Allein sein aufrechter Gang zeugte von guter Erziehung.
„Oh.“ Cosmin trat einen Schritt zurück. „Komm rein.“
Während er ihn durch die Gänge des Hauses führte, betrachtete Sorin all den Prunk, der an den Wänden, der Decke und auf dem Fußboden zu sehen war. Die altbekannte Wut machte sich bemerkbar. Sie war der Auslöser dafür gewesen, dass er und Lia den Schmuck gestohlen hatten. Wenig, im Vergleich zu dem Reichtum, der hier noch zuhause war. Zur Wut gesellte sich ein weiteres Gefühl, dessen er sich nicht schämte: Neid. Er konnte es gut verstehen, warum Lia gerne hier war und warum sie dieses Leben mochte. Aber er hoffte, dass das nicht der einzige Grund war, weshalb sie sich für Cosmin entschieden hatte.
„Das sind ja wirklich viele Bücher“, stellte er fest, als er die Bibliothek betrat. „Da hätte man viel zu tun, wenn man alles lesen wollte.“
„Kannst du lesen?“, fragte Cosmin.
„Ein bisschen. Wenn unsere Großmutter uns früher vorgelesen hat, hab ich immer versucht mitzulesen. Sie hat mir ein bisschen was beigebracht, aber das ist lange her. Inzwischen hab ich das meiste wieder vergessen.“ Es tat weh, an seine Großeltern zu denken. Er hatte sie geliebt, vor allem da ihre Eltern nie wirklich für ihn da gewesen waren. Mit Lia hatte er das nie besprochen, aber er wusste, dass auch sie sie vermisste. Bevor Cosmin noch fragen konnte, was mit seinen Großeltern passiert war, drehte er sich um und sagte: „Ich wollte nicht herkommen, aber Lia hat mich gebeten, dir eine Chance zu geben.“
Cosmin lächelte. „Ja, das hab ich mir gedacht. Hör mal, Sorin. Ich kann mir denken, dass du wütend bist, dass wir, die Geld haben, so viel haben und ihr nicht. Ich kann dir nur versichern, dass ich euch jederzeit welches abgeben würde, aber wenn du deiner Schwester auch nur ein bisschen ähnelst, würdest du es nicht annehmen wollen. Und ihr seid bestimmt nicht die einzigen. Ihr wollt kein Mitleid, keine Almosen. Mein Vater würde euch nicht unterstützen, und da ist er auch nicht der einzige. Ich mag ihn nicht, besonders, seit meine Mutter gestorben und er zu trinken angefangen hat. Was ich sagen will: Jeder Mensch ist verschieden, okay? Man kann die Leute nicht in Gruppen einteilen, die einen sind reich, die anderen arm. So einfach ist es nicht. Und weil euch bisher niemand geholfen hat, wird euch nie jemand helfen. Das wäre zu einfach, meinst du nicht? Aber was wollt ihr denn? Hier“, er ging zu einem Schränkchen, nahm mehrere Scheine Geld heraus und reichte sie ihm, „nimm es, mir macht es nichts aus, ich hab sowieso genug. Wenn man bedenkt, dass ihr mit fast nichts auskommt.“
„Ja, es ist fast nichts. Aber wir kommen nicht damit aus, wir überleben nur gerade so“, erwiderte Sorin.
„Dann nehmt das Geld doch“, forderte Cosmin ihn auf, aber Sorin zögerte. Seufzend legte Cosmin das Geld auf den Wohnzimmertisch. Er hatte nicht genau gezählt, wie viel es war. „Ich mag deine Schwester, sehr sogar. Und wenn sie bei mir ist, kann ich wenigstens sichergehen, dass es ihr gutgeht.“
Sorin sah ihn an, schaute auf das Geld und wieder zurück zu Cosmin. Dann ließ er sich entkräftet auf das Sofa fallen. „Ich mag sie auch. Und Elisei, Florica und Oana. Ich will, dass sie glücklich sein können. Ich kann es nicht ertragen, wenn Lia nachts todunglücklich nach Hause kommt, oder wenn meine Geschwister Hunger haben. Wenn sie spielen wollen, wir aber den ganzen Tag nicht da sind. Und wenn zumindest Lia mit dir glücklich ist, will ich dem nicht im Weg stehen. Ich will nur nicht, dass sie verletzt wird, oder enttäuscht.“
„Das will ich auch nicht“, stimmte Cosmin ihm zu.
Sorin nickte und stand wieder auf. „Ich denke, ich sollte gehen. Lia ist auf dem Markt und Flori, El und Oana sind alleine, also... vielleicht sehen wir uns mal wieder.“
„Ja, hoffentlich.“ Cosmin lächelte und schüttelte ihm die Hand.
„Ich finde alleine raus, danke.“ Als Sorin das Haus verließ und sich auf den Heimweg machte, dachte er viel über Cosmins Worte nach. Irgendwo machten sie Sinn. Jedenfalls wusste er nun, was Lia an Cosmin mochte.

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