Gezwungen - 6. Kapitel

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Sie erzählte Sorin nichts von ihrer Begegnung, auch wenn sie fast ununterbrochen daran denken musste. Wenn ihr Bruder sie auf ihren Gefühlszustand ansprach, antwortete sie, es läge an dem Geld, das sie schon wieder nicht erhalten hatte.
„Ich hab übrigens einen Käufer gefunden. Er wird bald ins Ausland gehen und will die Übergabe kurz vorher machen“, erzählte er ihr.
„Das ist doch... toll“, erwiderte Lia abwesend.
„Ja, vor allem, weil du dann in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr in dieser Bar arbeiten müssen wirst“, freute sich Sorin. Lia sah ihn an. Niemals wieder ihren Körper verkaufen zu müssen, hätte sie sich nie zu erträumen gewagt. Aber jetzt, als es so weit war, kam ihr ein Gedanke, der sie mehr als ängstigte. Ein Teil von ihr wollte zurück in die Bar. Und sie wusste auch ganz genau, warum, und vielleicht war ihr dieser Gedanke noch abstoßender: Sie wollte zurück in die Bar, weil sie hoffte, dass er wiederkommen würde. Sie kannte noch nicht einmal seinen Namen, und trotzdem ging er ihr nicht wieder aus dem Kopf.

Und nach zwei Wochen kam er tatsächlich wieder. Es war schon relativ spät, aber sie war immer noch im Schankraum, weil bisher niemand mit ihr nach oben wollte. Virginia war schon längst in ihrem Schlafzimmer verschwunden, natürlich mit Besuch. Lia saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Schoß eines dicken Mannes, der ununterbrochen Bier soff und bestimmt die Hälfte davon auf ihr verschüttet hatte. Es roch unangenehm und Lia musste sich sehr zusammenreißen. Das Gute an ihm war, dass er schon so betrunken war, dass er sich damit begnügte ihr unablässig über die Schulter zu streicheln, als wäre er ihr Großvater. Er erzählte ihr von seinem Leben und seinen Sorgen, aber mittlerweile hörte Lia kaum noch zu, bis sie plötzlich eine allzu bekannte Stimme vernahm.
„Ich will das Mädchen mit den kurzen Haaren.“
„Die ist aber schon beschäftigt, tut mir leid.“ Toma lachte kurz. „Kann ich dir eine andere Freude machen? Einen Schnaps vielleicht?“
„Ich zahle das doppelte“, sagte der andere. Lia lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie hatte Angst. Immer wieder musste sie die gleichen Worte denken: Er hat mich erkannt, er hat mich erkannt, er hat mich erkannt...
„Na, wenn das so ist...“
Lia erstarrte. Kurze Zeit später kam Toma zu ihnen, einen frischen Bierkrug in der Hand, der allerdings nur noch bis zur Hälfte gefüllt war. Toma war wohl der Meinung, dass der Mann schon so betrunken sei, das er nichts mehr merkte.
„Der geht auf's Haus, mein Freund“, sagte der Wirt, indem er den Krug auf den Tisch stellte, an dem der Mann saß. Und dann fügte er hinzu, leise an Lia gewandt, so dass nur sie es hören konnte: „Komm, Lia, es hat ein Mann extra nach dir bestellt. Muss an der neuen Frisur liegen.“ Seine Stimme war eiskalt. Lia wäre lieber bei dem Biertrinker geblieben. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, sonst hätte Toma es wahrscheinlich wieder als Vorwand genutzt, sie nicht bezahlen zu müssen. Mit wackeligen Knien stand sie auf und drehte sich zur Theke um. Er lehnte daran und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihr rüber. Der Säufer protestierte nur kurz, dann half ihm sein neuer Bierkrug über den Verlust hinweg. Toma legte seine Hand auf ihren Rück und schob sie zur Bar.
„Entschuldigt, sie ist voller Bier. Ich werde es schnell abwaschen“, sagte er zu dem Mann und schob sie hinter die Theke. Er nahm einen Lappen und befeuchtete ihn an der Spüle. Dann wischte er über alle Stellen, die mit Bier befleckt waren, auch an ihren Oberschenkeln und zwischen ihren Brüsten. Lia biss die Zähne zusammen. Sie fühlte sich wie ein Gegenstand, der vermarktet und der auf Hochglanz poliert werden muss. Und genau das war sie, wurde ihr schlagartig bewusst. Aber sie musste gehorsam sein. Sie blickte kurz zu dem wartenden Kunden. Er hatte respektvoll den Blick abgewendet. Immer wieder wiederholte sie in ihrem Geist, warum sie das alles machte. Für Oana. Für Flori. Für El. Für Soso.
Als Toma endlich fertig war, schob er Lia wieder hinter der Theke hervor und wünschte ihnen viel Spaß. Lia versuchte, jegliche Emotionen aus ihrem Gesichtsausdruck fernzuhalten, als sie zu ihm aufschaute, und versuchte sich sogar an einem anzüglichen Lächeln, aber sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelang.
Blaue Augen. Er hatte blaue Augen. Und sein Blick war nicht auf ihren Körper oder ihren Busen gerichtet, sondern in ihr Gesicht. Und er lächelte.
„Gibt es einen Raum, wo wir ungestört sind?“, fragte er und seine Stimme war genauso weich, wie an dem Abend, als er sie vor seiner Bibliothek überrascht hatte.
Seine Worte ließen sie erstarren. Sie hatte die ganze Zeit doch irgendwie gehofft, dass er anders war. Lia versuchte sich zusammenzureißen und nickte.
„Folgt mir“, sagte sie leise und drehte sich um.
„Uh, das geht aber schnell“, rief ihnen Toma hinterher und lachte dreckig.
Auf dem Flur im ersten Stock konnte man durch die dünnen Wände erregtes Stöhnen aus Virginias Zimmer vernehmen.
Lia öffnete ihre Tür und ließ ihn an sich vorbei. Dann schloss sie sie wieder. Als sie sich umdrehte, stand er mit dem Rücken in den Raum am Fenster und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Kurz zögerte sie, dann besann sie sich, dass sie nur ihren Job zu erledigen hatte. Sie atmete tief ein und ging zu ihm. Sie begann ihm über den Rücken zu streichen.
Doch er reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte. Er drehte sich ruckartig um und zog sich vor ihr zurück. Lia machte ebenfalls vor Schreck einen Schritt nach hinten, sodass nun anderthalb Meter Platz zwischen ihnen war. Er starrte sie an, als hätte sie ein Verbrechen begangen.
„Ich... es tut mir leid, ich wusste nicht... Ich dachte...“, stotterte Lia verunsichert. „Bitte sagt es nicht Toma.“ Sofort bereute sie ihre Worte.
Der Mann zog eine Augenbraue nach oben. Dann zog er seine Jacke aus und reichte sie ihr. „Hier, zieh das an.“
Nun war es an ihr ihn anzustarren. Niemals zuvor wollte ein Kunde, dass sie sich etwas anzog. Im Gegenteil.
„Nun nimm schon. Keine Sorge, ich werde es nicht diesem Toma sagen“, sagte er mit Nachdruck. „Aber es macht mich nervös, wenn du nur so wenig anhast. So kann man sich ja gar nicht richtig unterhalten.“
Immer noch zögernd nahm Lia die Jacke und warf sie sich über. Sie war viel zu groß, aber dafür konnte sie ihren Körper damit vollständig bedecken. Sogleich fühlte sie sich sicherer. Aber sie war dennoch misstrauisch. Er würde ihr nicht nachweisen können, dass sie bei ihm eingebrochen war. Hoffte sie...
„Komm, setz dich“, forderte er sie auf und setzte sich auf das Bett. Lia nahm das andere Ende.
„Wenn Ihr nicht mich wollt, was wollt Ihr dann?“, fragte sie schließlich.
„Bitte duz mich. Ich bin Cosmin. Du bist Lia, oder?“
Sie war froh, dass er ihr die Frage abnahm, ob sie ihm ihren Namen nennen sollte oder nicht. Sie nickte.
„Du bist vor ein paar Wochen bei mir eingebrochen, oder?“
Diesmal antwortete sie ihm nicht, sondern starrte ihn nur an.
Er lachte kurz. „Keine Sorge, du musst es mir nicht sagen. Ich bin mir sicher.“
„Wieso bist du dann hier?“ Lias Frage war etwas zu heftig.
Nachdenklich legte Cosmin den Kopf schief. „Ich weiß es auch nicht. Du machst mich neugierig. Aber ich seh schon. Heute wird daraus wohl nichts werden.“ Mit einem Ruck stand er auf. Das T-Shirt spannte über seinen muskulösen Schultern.
„Nein, warte. Kannst du... noch bleiben?“ Im selben Moment bereute sie bereits, dass sie gefragt hatte. Wie kam das denn?
Cosmin runzelte die Stirn. „Wieso?“
Wer A sagt muss auch B sagen. „Weil ich das Geld brauche und wenn du jetzt schon gehst, denkt Toma, ich hätte dich nicht... ausreichend... beglückt, und bezahlt mich nicht“, gab Lia leise zu. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen.
„Warum arbeitest du hier?“, fragte er leise mit sanfter Stimme.
Sie blickte auf. „Weil ich muss. Ich brauche das Geld.“
„Aber wieso arbeitest du hier und stiehlst?“
„Wer sagt, dass ich stehle?“, fragte sie zurück. Zu schnell.
„Ich hab dich auf dem Markt beobachtet. Du kannst es nicht leugnen. Selbst wenn du nicht zugeben willst, dass du bei mir eingebrochen bist. Als ich dich gesehen habe, hattest du schon kurze Haare.“
Ihre Schultern sackten nach unten. „Ich tue das nicht für mich.“
Er setzte sich wieder, schwang seine Beine auf das Bett und lehnte sich mit dem Rücken an das Kopfende. „Für wen dann?“
Lia lehnte sich an das Fußende, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. „Ich habe noch zwei Brüder, der eine älter, der andere aber erst elf. Und eine kleine Schwester, sie ist erst acht, und meine Tochter ist gerade mal ein Jahr alt. Mein Bruder und ich müssen jeden Tag auf den Markt, aber das reicht nicht. Mit der schlecht bezahlten Arbeit hier reicht es gerade so, damit wir nicht verhungern.“
„Und deine Familie ist damit einverstanden?“ In seiner Stimme war unverhohlener Abscheu zu hören.
„Nein. Die kleinen wissen nicht, wohin ich nachts gehe, und mein Bruder... Ich hab ihm schon oft gesagt, ich bin neunzehn und kann machen, was ich will.“
„Willst du es denn?“
Statt einer Antwort warf Lia ihm bloß einen ironischen Blick zu.
„Was ist mit deinen Eltern?“, fragte er weiter. Lia hatte es längst aufgegeben, irgendetwas zu verheimlichen. Sie hatte keine Lust mehr und außerdem glaubte sie, ihm vertrauen zu können. Es tat gut, darüber zu reden. Trotzdem versuchte sie, so unkonkret zu bleiben wie möglich. Niemals hätte sie die Namen ihrer Geschwister verraten, oder ihren Aufenthaltsort.
„Die sind abgehauen“, antwortete sie mit bitterem Unterton in der Stimme.
„Und der Vater deiner Tochter?“
„Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, wer es ist. Einmal hat wohl die Verhütung nicht geklappt und schwups...“
Er schwieg einen Moment. „Ich finde nicht, dass du hier arbeiten solltest“, sagte er schließlich voller Überzeugung. „Du hast Familie, du hast sogar eine Tochter. Du solltest nicht hier arbeiten müssen.“
Lia lachte trocken auf. „Tja, sag das mal dem Schicksal.“
„Ich selbst habe keine Geschwister. Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Und meinen Vater hast du ja letztens gesehen. Einer, der sein Geld in Alkohol und Huren verprasst, um seinen Kummer zu vergessen, und dem das Schicksal seines Sohnes eigentlich egal ist.“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit.
„Tut mir leid“, sagte Lia leise, aber Cosmin winkte ab.
So unterhielten sie sich noch eine Weile. Irgendwann fragte Cosmin, wie lange sie denn noch warten müssten. Lia antwortete ihm, dass sie immer so lange wie möglich hier oben bliebe, weil Toma oft dazu geneigt wäre, seinen eigenen Spaß mit seinen Angestellten zu haben. Als sie sich schließlich entschlossen, dass nun genug Zeit verstrichen war, standen sie auf und gingen zur Tür.
„Darf ich dich noch was fragen?“, fragte Lia schließlich vorsichtig.
„Klar.“
„Ich bin nie in eine Schule gegangen. Was steht unter dem Bild, das bei euch im Salon hängt? Das mit dem Wald?“
„Also warst du es doch“, grinste Cosmin und Lia musste das Lächeln erwidern. „Ich weiß es nicht, aber ich kann nachschauen. Warum?“
„Da würde ich gerne mal hinreisen.“ Für einen Moment vergaß sie, wo sie war.
„Du hast noch meine Jacke an“, bemerkte Cosmin schließlich und Lia zog sie aus, um sie ihm zu geben.
Als sie unten im Schankraum waren, nahm Cosmin den Hauptausgang und Lia den Hinterausgang. Weder sie noch er schauten sich noch einmal um, aber als Lia zur alten Fabrik ging, ging sie beschwingten Schrittes, was so gut wie nie vorkam, und als sie auf ihrem Lager lag, musste sie niemand trösten. Nicht in dieser Nacht.

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