Gezwungen - 23. Kapitel

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Lia war noch nie Auto gefahren und noch nie weiter von Arad weg gewesen als bis zu der abseits gelegenen, alten Fabrik. Die Welt wandelte sich. Sie war weiter als der Horizont ihr zeigte, weiter als nur bis zur nächsten Straßenecke. Weiter, als die Sterne versprachen, die sie Nacht für Nacht am Himmel leuchten sah. Es gab mehr als nur die drei Eichen im kleinen Wäldchen hinter der Fabrik, dessen Formen und Farben sie auswendig kannte. Es gab mehr als diese eine Skyline, die sie jedes Mal vor sich sah, wenn sie Richtung Stadt unterwegs war. Es gab mehr schöne Dinge und Freude, als sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte. Und es gab mehr Leid und Armut. In jeder Stadt das gleiche Bild, das einem den Lebensmut aus dem Herzen zu saugen drohte. Aber in keiner von den Millionen Straßen, die sie absuchten, fanden sie auch nur ein bekanntes Gesicht. Vielleicht ein kleines Mädchen mit rötlich schimmerndem Haar. Vielleicht ein nicht ganz so kleiner Junge mit neugierigem Blick. Vielleicht ein junger Mann mit vom Schmerz gezeichneten Gesicht. Stattdessen nur Illusionen, Vorstellungen, die den Erinnerungen entsprangen und von Wunsch und Traum genährt wurden. Und mit jedem Tag, an dem die Wärme des Sommers wich, da wich auch die Hoffnung aus ihrem Herzen, der Lebensmut, ausgesaugt von dem immer währenden Bild von Armut und Leid.
Cosmin mochte denken, sie hätte es nicht bemerkt, aber das hatte sie: Er hatte aufgehört, es zu sagen. Diese wenigen Worte, die doch mehr Bedeutung hatten, mehr Lüge waren als alles andere: Wir finden sie schon. Nein, sie fanden sie nicht. Auch Cosmin musste es einsehen, eingesehen haben, denn er sagte es nicht mehr. Und sie würde sie auch nicht mehr finden. Das konnte man nur sagen, wenn das Wort Hoffnung nicht mehr mit Empfinden gefüllt werden konnte. Sie würden sie niemals finden. Ja, die Welt war weiter als sie es sich jemals hätte vorstellen können, weiter als die Sterne versprachen, und in diesem Fall doch viel zu groß und viel zu weit. So weit, dass doch einiges verloren gehen konnte. Glück ging verloren, Hoffnung und Freude gingen verloren. Intensität war nicht mehr das, was sie mal war. Farben verblassten, erst von Regen, dann von Schnee und dann von Dunkelheit. In der Welt und im Herzen.
Cosmins Vater, so sagte man ihnen eines Tages, sei auf der Straße von einem Auto überfahren worden. Im betrunkenen Zustand auf dem Weg nach Hause. Lia konnte nicht um ihn weinen und Cosmin auch nicht. Obwohl er ihn geliebt hatte. In den Weiten der Welt verblasste selbst die Trauer, nur der Schmerz nicht. Sie gingen zur Beerdigung. Es war zu warm, um auf mehr Schnee zu hoffen. Der Matsch sammelte sich am Straßenrand in Bergen von Schmutz. Der Mantel und die Schuhe, die Cosmin ihr für den Winter gekauft hatte, schützten vor der feuchten Luft. Die Kirche war gut besucht. Zu Lebzeiten hatte man ihn nie besucht. Vom Leben verlassen. Es hatte sich nichts geändert. Lia konnte der Feier nicht folgen, so wie sie sowieso vielem nicht mehr folgen konnte. Sie nahm Cosmins Hand und drückte sie. Das hatte er bei ihr ganz oft getan in den letzten Monaten. Er weinte nicht um ihn, weil er ihn schon längst losgelassen hatte. Loslassen ist meist einfacher als festhalten. Angenehmer. Schmerzfreier. Man muss das loslassen, was einem im Weg steht auf dem Weg zur Hoffnung. Doch loslassen erfordert Mut. Mut, etwas neues zu beginnen, im schlimmsten Fall noch mehr Leid ertragen zu müssen, im besten Fall, wieder sehen zu können, was Glück bedeutet. Cosmin wusste das, und sie bewunderte ihn dafür. Sie verstand, dass es so nicht weitergehen konnte. Um Cosmins willen. Sie schloss die Augen und kuschelte sich an ihn. Sie presste ihre Lider so fest aufeinander wie sie konnte. Und als sie sie wieder öffnete, konnte sie es wieder sehen, das Leben. Sie war nicht mehr blind. Als sie Cosmins Blick begegnete, lächelte sie sogar. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang. Mit allem musste man erst einmal anfangen. Selbst mit der Zukunft fing man an, vielleicht morgen, vielleicht erst in ein paar Jahren. Aber Lia begann mit ihrer Zukunft genau in diesem Moment.
Für sie war es nicht die Beerdigung von Cosmins Vater. Für sie war es die Beerdigung ihrer Vergangenheit.

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