Sie saß auf dem Sofa, auf dem sie nun schon oft gesessen hatte. Cosmin hatte ihr einen Tee gemacht. Auf seine Fragen reagierte sie nicht, hielt nur Minute um Minute die Tasse in der Hand, die sicher heiß sein musste, und starrte vor sich hin. Es waren endlose Minuten. Cosmin hatte ihr auch eine Decke um die Schultern gelegt. Mehr fiel ihm nicht ein, was er tun könnte, solange sie nicht mit ihm sprach. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätte geheult und geweint, als diese unerträgliche Schockstarre.
„Lia?", fragte er vorsichtig.
Keine Reaktion. Wie schon seit einer halben Stunde. Eine halbe Stunde, die Cosmin vorkam wie mehrere von ihnen.
„Kannst du mich hören? Bitte sag etwas, weil... Ich mache mir Sorgen um dich. Ich weiß nicht, was ich tun soll." Er wusste nicht, ob es ein gesundheitliches Problem war, und sie ärztliche Hilfe brauchte, oder nur schwieg, aus Angst, dass wenn sie sprach, es vielleicht realer werden würde. Oder womöglich dachte sie auch nur nach und ihre Gedanken waren an einem ganz fernen Ort. Aber all das konnte Cosmin nicht wissen. Als sie wieder nicht antwortete, beschloss er, einfach zu warten, bis etwas passierte.„Es ist einfach so... Ich weiß nicht... abartig." Sie senkte den Blick. Nach einer gefühlten Ewigkeit zeigte sie endlich eine Reaktion. Aber nicht die Gefühle, die Cosmin erwartet hätte und auf die er sich innerlich schon vorbereitet hatte. „Seit ich denken kann, na ja, seit wir keine Eltern mehr hatten, waren wir auf der Hut. Sorin hat erst mir, dann meinen Geschwistern wieder und wieder eingebläut, was sie tun sollten, falls solche Leute auftauchen würden. Ein ums andere Mal. So oft sind wir nach Hause gekommen, in der Angst, dass sie nicht mehr da sein würden." Sie stellte die Tasse ab und betrachtete ihre feuerroten Handflächen. Er hätte ihr besser doch keinen heißen Tee gemacht in dem Zustand. Cosmin bewunderte sie für ihre Stärke, ihre Fassung. Selbst in solch einer Situation hielt sie die Fassade, die ihr das Leben gegeben hatte.
„Lia", begann er, doch er kam nicht weit.
„Und jetzt!", rief sie und sprang auf. „Jetzt, wo es uns ein Mal gut geht, besser als je zuvor, jetzt, ausgerechnet jetzt kommen sie und machen alles, alles kaputt! Das ist doch so... pervers!" Noch immer sah Cosmin keine Tränen, aber hatte den Verdacht, dass diese noch kommen würden. Mit wenigen Schritten war sie auf dem Balkon. Er hatte schon Angst, sie würde gehen, aber sie stützte sich nur auf dem Geländer ab und atmete durch. Cosmin trat neben sie und stützte sich ebenfalls ab. Er schaute sie nicht an, um sie nicht zu bedrängen, sie sollte erst mal ihrem Frust Luft machen. Aber als er kurz zu ihr blickte, merkte er, dass sie leise weinte. Ganze Bäche flossen ihre Wangen hinunter, ohne, dass sie einen Laut von sich gab. Er wandte sich ihr zu und nahm sie wortlos in den Arm. Sie schüttelte zwar den Kopf, als wollte sie Widerstand leisten, hatte aber keine Kraft mehr dazu. Es war einfacher, sich den Tränen hinzugeben, einfacher, die Kontrolle aus der Hand zu geben, als immer und zu jeder Zeit stark zu sein und stark sein zu müssen.
In seinen Armen zitterte sie vor unterdrücktem Schluchzen. Lia hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht, was sie tun würde. Zudem wollte sie das auch eigentlich gar nicht, denn dann müsste sie sich eingestehen, dass die Chancen, ihre Brüder, ihre Schwester und ihre Tochter irgendwann wiederzusehen, so schlecht standen, als wollte sie eine Nadel im Heu suchen, und hätte dazu fünfzig Stück zur Auswahl. Und dieser Gedanke war einfach zu schmerzhaft. Sicher, er würde auch zu einem späteren Zeitpunkt schmerzhaft sein, denn irgendwann würde sie sich damit befassen müssen, doch im Moment widerstrebte noch alles in ihr, solch einen Gedanken zuzulassen. Sie hatte gerade erst entschieden zu kämpfen, aber wie und woher sollte sie nach so einer Niederlage Kraft finden, um für ihre Familie einzutreten, wenn es nichts gab, was sie innerlich stützte. Aus diesem Grund konnte sie sich in dem Moment keine Gedanken darüber machen, sonst würde es ihr vermutlich nie möglich sein. Nie möglich sein, noch einmal aufzustehen und ein Leben voll von Enttäuschungen zu kämpfen.
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Gezwungen #BestsellerAward2018
General FictionAlleine. Keine Eltern. Kein Geld. Zu fünft wohnt Liana mit ihren Geschwistern und ihrer kleinen Tochter in einer verlassenen Fabrik in der Nähe von Arad, Rumänien. Der Taschendiebstahl auf dem Markt reicht nicht, um ihre Geschwister zu ernähren. Des...