Gezwungen - 15. Kapitel

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Lia glaubte prinzipiell an nichts. Nicht an Wunder, die passierten normalerweise immer allen anderen, nur ihr nicht, und an Gott schon mal gar nicht. Die bessere Zukunft hatte sie sich längst aus dem Kopf gestrichen. Allerdings konnte es immer schlimmer werden. Glauben war wie hoffen. Und danach folgte eine Enttäuschung nach der anderen. So sehr an den Vorstellungen der religiösen Lehren festhalten konnte und wollte sie nicht. Deshalb konnte sie auch nicht sagen, warum sie am nächsten Morgen in eine Kirche ging. Es war kein Gottesdienst, der Innenraum lag still und verlassen da, bis Florica ihn mit ihrer Stimme füllte.
„Was machen wir hier?“, fragte das Mädchen.
Lia drückte ihre Hand und zog sie langsam mit sich nach vorne. Sie war bisher ein einziges Mal in einer Kirche gewesen, als ihre Großeltern beerdigt wurden. Mit ihrem Tod hatte das Unglück begonnen. Sie hatten sich immer um sie und Sorin gekümmert, doch als sie tot waren, war niemand mehr für sie da. Letztendlich hatten ihre Eltern sie alleine in der Stadt zurückgelassen. Lia konnte sich an viele Bänke erinnern. An wenig Besucher, ihre Großeltern waren ebenfalls nicht wohlhabend gewesen und hatten wenig Bekanntschaft. Von den Armen wandte man sich ab, nicht dass die Krankheit auch noch auf einen selbst übersprang.
An Musik konnte sie sich erinnern, in der Kirche hatte sie das letzte Mal etwas in der Art gehört. Ihre Oma war die einzige gewesen, die ihnen jemals etwas vorgesungen hatte.
Und an ein Licht. Wenn sie sich an den Mann erinnerte, der vorne gestanden und für die Toten gesprochen hatte, sah sie ihn immer hell und erleuchtet vor sich.
Lia setzte sich mit Oana und Florica auf die dritte Bank von vorne. Das Holz war kühl, Polster gab es nicht.
„Flori, weißt du, was das für ein Ort ist?“, fragte sie sie leise.
„Nein. Ein Haus?“ Lias Schwester strich sich ihre krausigen Löckchen hinter die Ohren und baumelte mit den Füßen. An den Boden kam sie nicht.
„Nein. So sehen keine normalen Häuser aus. In richtigen Wohnhäusern gibt es eine Küche, wo das Essen zubereitet wird, und ein Badezimmer. Ein Schlafzimmer, manchmal sogar eine Bibliothek.“ Sie konnte nicht verhindern, dass sie an Cosmins Zuhause dachte. „Das hier ist eine Kirche.“ Es war schon traurig, wie wenig ihre Geschwister von der Welt wussten.
„Und was macht man hier?“
„Die Menschen, die hier herkommen, glauben. Sie kommen, um etwas über ihren Glauben zu erfahren. Sie glauben an einen Gott und dass dieser Gott ihren Weg bestimmt. Sie glauben an die Erlösung durch den Tod und dass es ein Paradies gibt, in das wir irgendwann kommen.“ Sie musste schlucken.
„Und glauben wir jetzt auch daran, weil wir hier herkommen?“
Lia betrachtete ihre kleine Schwester. Sie war noch so unschuldig und voll Licht. „Das musst du selbst entscheiden. Sie legte einen Arm um sie und Florica kuschelte sich an sie. Lia erinnerte sich auch an eine Melodie. Manchmal kam sie ihr in den Sinn. Sie wusste nicht genau, woher sie kam, aber wenn sie es tat, dann verließ sie sie so schnell nicht mehr. Leise begann sie zu summen. So etwas hatte sie noch nie getan. Bisher war in ihrem Leben kein Platz dafür gewesen. Ihre Stimme füllte die Luft und wurde von den Wänden zurückgeworfen. Es tröstete sie. Und nun wusste sie auch, weshalb sie gekommen war: Sie wollte es ihrer Schwester nicht verwehren, selbst entscheiden zu können, ob sie auf etwas hoffte, oder es nicht tat. Lia wünschte sich so sehr, dass Florica es könnte. Und sie wünschte sich, dass sie nicht enttäuscht werden würde.

Es ging nicht. Lia hatte gehofft, dass sie Cosmin irgendwann in nächster Zukunft vergessen würde, aber er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie vermisste ihn. Sie vermisste das Gefühl, das er ihr gab. Nicht selten wünschte sie sich, sie könnte nun einfach zu ihm nach Hause gehen und... ja was eigentlich? Was würde sie ihm sagen? Was würde sie tun? Sie konnte es nicht beantworten, und es war auch nicht wichtig. So eine Situation würde es nicht geben, denn sie würde nicht zurückkehren. Und das musste sie akzeptieren.
Sie machte es sich zur Gewohnheit, ab und zu zu singen oder zu summen. Wenn sie mit Oana laufen übte. Wenn sie mit Florica Kunstwerke aus Staub malte. Wenn sie mit den beiden kuschelte. Sie mochte die Zeit, die sie nun für die beiden hatte und genoss es auch. Zumindest wenn sie nicht die Sorgen und die Sehnsucht niederdrückten.

Zwei Tage später saß Cosmin an der Theke von Tomas Bar, als sie den Schankraum betrat. Lia erstarrte und wäre am liebsten rückwärts wieder rausgerannt und gleichzeitig wünschte sie sich nichts mehr, als sich nun in seine Arme kuscheln zu können. Er hatte sie schon entdeckt. Als er aufstand und zu ihr ging, hielt sie die Luft an.
„Lia“, flüsterte er.
Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange und senkte den Blick.
„Lass uns hochgehen.“ Cosmin nahm ihre Hand und zog sie mit sich die Treppe hinauf. Er führte sie in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Lia lehnte sich so weit wie möglich von ihm entfernt an eine Kommode und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war eine Position, die eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen aufbauen sollte. „Also, worüber möchtest du reden?“ Sein Haar war ungeordnet, einige Strähnen fielen in seine Stirn. Sie spürte seinen intensiven Blick auf sich, vermied es aber, ihn anzusehen. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Immer wieder wiederholte sie die Worte in ihrem Geiste: Ich werde nicht nachgeben. Ich werde nicht nachgeben...
„Wer sagt, dass ich reden will?“
Lia starrte ihn an. Hatte er das gerade wirklich gesagt?

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