Gezwungen - 19. Kapitel

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„Hey, Licas.“ Beschwingten Schrittes betrat sie durch die Hintertür die Lagerräume von Tomas Bar. Licas nickte ihr zur Begrüßung zu. Als Lia in das kleine Zimmerchen kam, in dem sie sich immer umzog, glitt ihr Blick flüchtig über den Spiegel, die unechte Schminke, den kleinen Hocker davor, ihr Kostüm. Sie durchquerte den Raum und verließ ihn. Toma stand hinter seiner Theke, ihr den Rücken zugewandt, und spülte Gläser. Dass diese nie wirklich sauber waren, hatte bisher auch niemand bemerkt. Lia betrachtete das Messer in ihrer Hand, drehte es mit einer leisen Bewegung. Es war nichts Besonderes, hätte vielleicht sogar als Küchenmesser durchgehen können. Doch für Lia hatte es eine ganz andere Bedeutung. Wieder betrachtete sie Tomas Rücken. Er war groß und breit, von der Bierwampe ganz zu schweigen. Das dreckige Grinsen hätte sie ihm am liebsten vom Gesicht gewischt. Auch von hinten war sie sich sicher, dass es in diesem Moment sein Gesicht verunstaltete. Sie packte den Griff des Messers fester und trat aus dem Schatten der Tür heraus. Toma war nicht schlau, war es nie gewesen. Er wusste bloß, wie er mit anderen umgehen musste, um sie zu unterdrücken. Denn in einem hatte er Unrecht: Es war nicht egal, was man arbeitete, es war nicht egal, ob man glücklich war oder nicht. Glück konnte man in den dunkelsten Gassen finden. Man durfte sich nur nicht davor verstecken.
Als sie von hinten den Arm um ihn legte, war ihm lange nicht klar, was sie zu tun gedachte.
„Hey, Ginny, meine Kleine. Heute zum Schmusen aufgelegt, was?“, sagte er gönnerhaft und lachte.
„Ich bin nicht Ginny“, entgegnete Lia und legte ihm das Messer an den Hals. Erst als er das kalte Metall auf seiner Haut spüren konnte, hielt er in der Bewegung inne und erstarrte. Nach und nach wurden die Gäste auf sie aufmerksam und nach anfänglichen erschrockenen Aufrufen wurde es beinahe totenstill in dem Raum.
„Lia“, stellte Toma fest. „Was willst du?“
„Mein Geld.“ Lias Stimme war fest und emotionslos.
„Glaubst du, du kriegst das einfach so? Du musst schon dafür arbeiten.“ Er versteckte seine Unsicherheit hinter derselben Maske wie eh und je und Lia wusste das.
„Ich glaube nicht, dass du in deiner Position Forderungen stellen kannst.“ Sie benutzte die Worte, die einst Toma gegen sie verwendet hatte, und es fühlte sich gut an.
„Du traust dich ja sowieso nicht, mir was anzutun“, meinte er und fuhr fort, seine Gläser zu trocknen. „Glaub mir, ich kenne dich, du hast ein viel zu gutes Herz.“
„Ach, meinst du?“ Sie drückte das Messer fester gegen die Speckröllchen an seinem Hals. Ihre Hand zitterte kein bisschen. „Bist du dir ganz sicher? Menschen ändern sich. Besonders wenn sie schlechtem Umgang ausgesetzt sind.“ Blut lief an seinem Hals hinunter und er legte Glas und Handtuch wieder hin.
„Lia, was tust du?“ Sie brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass die Stimme Virginia gehörte.
„Nach was sieht es denn aus? Also Toma, willst du es drauf ankommen lassen, oder gibst du mir das Geld, das du mir schuldest?“
„Ich... geb' dir das Geld“, entschied er sich schließlich. Feigling, dachte Lia. „Es ist in der Kasse, die da steht.“
„Und der Schlüssel?“
„In meiner Hosentasche.“
Mit der Hand, mit der sie nicht das Messer hielt, griff sie in seine Gesäßtasche, fand aber nichts.
„Nein, in der links vorne“, präzisierte er.
Da Lia auf keinen Fall das Messer wegnehmen wollte, griff sie um ihn herum und tastete nach seiner Tasche. Diesmal fand sie einen Schlüssel und bemerkte außerdem, dass er schon wieder erregt war.
„Du bist so erbärmlich“, spie sie aus, aber er quittierte das nur mit einem Lachen. Doch als sie das Messer wieder fester gegen seinen Hals drückte, verging es ihm schlagartig. „Jetzt mach schon, zur Kasse.“
Diesmal gehorchte Toma ohne weitere Kommentare. Mit der einen Hand schloss sie die Kasse auf und nahm sich den gesamten papierenen Inhalt heraus. Es war nicht genug für all die Stunden, für die sie bisher nicht bezahlt worden war, das merkte sie sofort, aber mehr konnte sie nicht erwarten. Schließlich zog sie das Messer zurück, stieß ihn von sich und wandte sich zur Tür.
„Ach ja, und ich kündige.“ Mit diesen Worten verschwand sie. Sie hörte noch, wie Toma rief, jemand solle doch die Polizei rufen, aber das interessierte sie nicht mehr. Ein kleiner Kassenraub würde die Regierung wenig interessieren, die hatten schlimmere Fälle aufzuklären. Auf dem Rückweg würdigte sie das kleine Zimmerchen keines Blickes. Als sie bei Licas in den Vorratsräumen ankam, umarmte sie ihn. Sie war sich nicht sicher, ob er jemals solche Nähe erfahren hatte, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht. Als sie sich von ihm löste, drückte sie ihm noch etwas von ihrem gerade gestohlenen Geld in die Hand und verschwand durch die Tür. Als Toma bei der Hintertür ankam, um ihr zu folgen, war sie längst in den Schatten des Gässchens untergetaucht. Sie würde ihn nie wiedersehen. Lächelnd zog sie sich die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf. Ja, dieses Messer bedeutete für sie Freiheit.

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