Gezwungen - 11. Kapitel

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Als sie aufwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Sie schien durch ein kleines Fenster und kitzelte sie am Arm. Lia wusste sofort, wo sie sich befand. Das Zimmer war klein und gemütlich. Die Bettwäsche war freundlich und die Matratze weich. Lia blinzelte. Auf einem Stuhl neben dem Bett lag das wunderschöne Kleid von letzter Nacht. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber jeder einzelne Muskel schien zu schmerzen. Als sie die Bettdecke beiseite schob, sah die den mittlerweile noch weiter angeschwollenen blauen Bluterguss auf ihrer Hüfte. Es widerstrebte ihr, die restlichen geschundenen Stellen an ihrem Körper zu begutachten, und sie stand auf. Im ersten Moment schwindelte es ihr, aber dann konnte sie aufrecht stehen. Sie zog sich das kleid über, ohne länger darüber nachzudenken. Obwohl ihr alle Glieder wehtaten, fühlte sie sich wie neugeboren und vor allem sauber. Sie öffnete die hölzerne Tür und sah sich auf dem Flur um. Es gab keine Lampen und sie hatte keine Ahnung, wo sie Cosmin finden könnte. Rein aus Gefühl entschied sie sich, nach links zu gehen. An den Wänden waren zahlreiche Gemälde aufgereiht, die sie sich eins nach dem anderen anschaute. Meist waren es Landschaften, manchmal auch Stillleben oder Portraits. Sie waren mit den verschiedensten Techniken gemalt, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie erzählten eine Geschichte, malten eine Vorstellung, die etwas in Lia berührte. Sie hatte nie solche Bilder gesehen, geschweige denn besessen. Im Vergleich zu dem Bild des Regenwaldes im Salon waren diese noch um einiges besser. Mehr Farbvielfältigkeit und wahrhaftige Proportionen. Zwar kannte sich Lia überhaupt nicht mit Kunst aus, aber selbst sie konnte sehen, dass man für den Regenwald weniger künstlerisches Geschick benötigte als für ein so detailreiches Portrait, wie sie sie hier fand.
Plötzlich wurde eine Tür aufgestoßen und Lia wirbelte herum. Ein breitschultriger Mann trat auf den Gang hinaus und starrte sie an. Sie hatte ihn bereits gesehen und erkannte ihn wieder, nicht zuletzt, weil er die gleichen Augen besaß wie Cosmin: Es war sein Vater, den sie aus der Bar kannte. Einige Minuten starrten sie sich gegenseitig an, bevor er plötzlich den Mund aufmachte.
„Cosmin!“, schrie er. „Sorg gefälligst dafür, dass deine Schlampen nicht in meinem Haus herumstromern, sondern unter Aufsicht bleiben!“ Damit setzte sich der Mann wieder in Bewegung und rauschte ohne ein weiteres Wort oder einen Blick an ihr vorbei. Zurück blieb ein unangenehmer Geruch nach Alkohol. In dem Moment wurde eine weitere Tür aufgerissen und ein besorgt dreinschauender Cosmin erschien in der Türöffnung. Lia wollte es sich nicht eingestehen, eigentlich hatte sie sich mit solchen Bezeichnungen abgefunden, aber dass er sie als seine Schlampe bezeichnete, versetzte ihr dennoch einen Stich. Sie fühlte sich nicht, als wäre sie nur Cosmins Besitz, den er benutzen und mit dem er alles tun konnte, was er wollte. Und eigentlich wollte sie das auch nicht sein, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr war es wichtig, dass er sie respektierte. Sie wollte seine Freundin sein, egal auf welche Weise. Aber eine ganz leise Stimme, die sie die ganze Nacht erfolgreich unterdrückt hatte, sagte etwas ganz anders. Sie waren zu verschieden, es würde nicht klappen.
„Tut mir leid, ich wusste nicht...“, begann er. „Ich konnte nicht wissen, dass... Wie geht es dir?“ Seine Stimme nahm gleich einen weicheren Ton an.
„Gut“, antwortete sie und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei dieser Lüge.
Cosmin musterte sie kritisch, ging aber nicht weiter darauf ein. „Komm“, forderte er sie stattdessen auf und streckte die Hand nach ihr aus. „Das Kleid steht dir übrigens wunderbar.“
„Danke.“ Lia schluckte und folgte seiner Aufforderung. Die Tür führte in die Bibliothek. Sonnenstrahlen schienen durch die Fenster und erleuchtete den Staub, der in der Luft tanzte. Im Hintergrund lief leise Musik.
„Du kannst dich erst mal setzen“, meinte Cosmin. „Ich bin gleich wieder da.“ Damit durchquerte er den Raum und verließ ihn durch die Tür zum Salon. Lia konnte es noch immer nicht fassen, wie viele Räume es in diesem Haus gab. Statt sich zu setzen, öffnete sie die Terrassentür und trat hinaus ins Sonnenlicht. Die Vögel sangen munter und eine leichte Brise strich ihr über die nackten Arme und wehte ihr die ein oder andere Strähnen ihres kurzen Haares ins Gesicht. Ihres kurzen, frisch gewaschenen Haares. Es war viel heller, als wenn es Tonnen von Staub bedeckten. Zudem ließ es die Sonne golden erscheinen.
„Lia?“
Lia schreckte auf und drehte sich herum.
„Ach, da bist du“, sagte Cosmin, als er sie entdeckte und lächelte. „Es gibt Frühstück.“
Sie ging zurück in die Bibliothek, als sie nachfragte: „Frühstück?“ Aber da sah sie bereits das Tablett, das auf dem kleinen Tischchen stand. Es gab Brötchen, Marmelade, Saft, Kakao und vieles mehr, deren Namen sie schon  vergessen hatte, so lange war es her, dass sie es das letzte Mal gegessen hatte. Sie schaute Cosmin an. „Ich hab aber keinen Hunger.“ Und es stimmte: Sie hatte wirklich keinen Hunger. Ihr Stoffwechsel war es gewohnt, morgens und abends nichts zu essen, sondern nur mittags oder nachmittags.
„Bitte, iss trotzdem etwas“, bat er sie. „Ich werde auch etwas essen, und ich tue es ungern alleine.“
Sie nickte und setzte sich. Unwillkürlich musste sie an ihre Geschwister denken. Sie brauchten sie ganz sicher und hatten Hunger, während sie sich hier den Bauch vorschlug. Würde sie ihnen etwas mitnehmen können?
„Danke.“ Cosmin schnitt zwei Brötchen auf und reichte ihr eins. Er schaute sie an, aber sie wich seinem Blick aus. „Weißt, du“, begann er schließlich, „das Kleid, das du trägst, gehörte meiner Mutter. Ich habe viele Fotos gesehen, auf denen sie es anhat. Ich glaube, es war ihr Lieblingskleid.“
„Soll ich es wieder ausziehen?“
„Nein. Sonst würde es nur im Schrank hängen und von Motten zerfressen werden. Glaub mir, ich bin froh, wenn du es trägst. Es passt zu dir.“ Er lächelte. Warum lächelte er immer so?
Als Lia in ihr Brötchen biss, hätte sie beinahe geseufzt, so gut schmeckte es. Es wäre schön gewesen, sich der Illosion hinzugeben, dass das ihr Leben wäre. Aber das war es nicht, und die Chancen, dass es das einmal sein würde standen nicht sehr gut. Schon gar nicht für sie und ihre Geschwister.
„Mein Vater isst nie mit mir“, erzählte er ihr. „Wir leben zwar im selben Haus, aber mehr nebeneinander als miteinander. Er gibt mir die Schuld an dem Tod meiner Mutter, was ja auch irgendwie stimmt.“
Lia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, also sagte sie gar nichts.
„Ich sollte nicht über so finstere Dinge reden“, schalt er sich selbst. „Es ist ein wunderschöner Morgen, findest du nicht? Den sollten wir nicht mit solchen Gedanken trüben. Sondern uns mit anderen Dingen beschäftigen.“ Plötzlich stand er auf und drehte das Radio lauter. Lia kannte das Lied nicht, was aber mehr daran lag, dass sie überhaupt keine Lieder kannte, außer die Kinder- und Schlaflieder, die ihr Sorin früher immer vorgesungen hatte und die er von Zeit zu Zeit den kleinen vorsang. Aber diese Musik war ganz anders.
„Darf ich dich um diesen Tanz bitten?“
Als Lia aufschaute, stand Cosmin in einer angedeuteten Verbeugung da und hielt ihr eine Hand hin. Sie musterte zuerst die Hand, dann wanderte ihr Blick weiter zu seinem Gesicht. Wieso lächelte er immer so? Und wieso löste sein Lächeln bei ihr immer solche Gefühle aus? Lia stand auf. Sie hatte keine Ahnung, wie man tanzte, aber das musste sie auch nicht. Wie hypnotisiert beobachtete sie, wie Cosmin eine ihrer Hände auf seine Schulter und eine auf seine Hüfte legte. Ihr Herz raste, als er seine Arme um sie legte. Er bewegte sich mit der Musik und ihr Körper passte sich seinen Bewegungen an. In diesem Moment existierten keine Armut und keine Sorgen, kein Unglück und keine Schuld. In diesem Moment waren sie eins. Vielleicht gab es ja doch Hoffnung. Vielleicht hatte Liana ein Mal Glück in ihrem Leben gehabt, dass sie diesen Menschen kennengelernt hatte.
In diesem Moment legte er seine Lippen auf ihre. Augenblicklich beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie konnte die Wärme spüren, die von seinen Lippen ausging. Lias Hand rutschte von seiner Schulter zu seinem Hals und in sein Haar. Die andere Hand nutzte sie, um sich noch fester an ihn zu pressen, was eigentlich gar nicht mehr möglich war. Für Lia war der Kuss wie Ankommen. Allerdings hatte er auch einen verzweifelten Beigeschmack. Er war die Oase in der Wüste. Sie wollte es so sehr. Ihn und das Glück und ein richtiges Leben. Sie fühlte so viel, dass sie es nicht hätte in Worte fassen können. Es war ganz anders, als wenn sie wildfremde Männer küsste, denen sie nicht wichtig war. Und deshalb riss sie sich plötzlich von ihm los. Nicht, weil sie es nicht genossen hätte. Aber obwohl sie gerade nur ihn küsste, hatte sie das Gefühl, ihn zu verraten. Und wenn sie es jetzt nicht tat, so würde sie es doch in Zukunft tun. Sie wollte ihn nicht verletzen und sie wollte es auch sich selbst nicht schwerer machen, als es sowieso schon war.
„Wo sind meine Sachen?“, presste sie durch zusammen gebissene Zähne hervor.
„Im Bad. Aber bitte lauf nicht weg. Was ist denn?“ Cosmin wusste jetzt schon, dass er keine Chance hatte, sie jetzt noch umzustimmen. Aber er wollte und konnte sie nicht einfach so gehen lassen.
Lia ignorierte ihn und wandte sich der Badezimmertür zu.
„Du bedeutest mir sehr viel, Lia, und ich weiß, dass ich dir auch etwas bedeute.“
Sie zog das Kleid aus und ihre Hose und ihren Pullover an. Sie waren feucht. Der Gedanke, dass Cosmin sie für sie gewaschen hatte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie, so gut es ging, weg
„Es macht keinen Unterschied“, sagte sie hart, als sie wieder aus dem Bad kam. „Wir sind zu verschieden.“
Cosmins Blick, den er auf Lia richtete, war verletzt, und es brach ihr das Herz, ihn so zu sehen. Dennoch reichte sie ihm das Kleid.
„Bitte, ich will dass du es behältst“, sagte er leise.
Es würde sie an ihn erinnern. Sie würde es jeden Tag betrachten und um ihn trauern, und doch nie tragen. Sie liebte das Kleid, es war perfekt. Sie könnte es auch für viel Geld verkaufen und davon ihre Familie ernähren. Liebend gern hätte sie es mitgenommen. Alles in ihr drängte sie dazu, es mitzunehmen.
„Nein.“ Sie schmiss das Kleid aufs Sofa und verließ schnellen Schrittes die Bibliothek, den Salon, den Flur, das Haus. Sie schaffte es nicht mal bis zur Straße, bis dicke Tränen ihre Wangen hinunterrollten.

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