Gezwungen - 2. Kapitel

611 18 0
                                    

Als sich endlich alle ihre Geschwister hingelegt hatten und zu schlafen schienen, stand sie wieder auf. Sie streifte sich ihren Pullover über den Kopf und zog die Kapuze auf.
„Du musst das nicht tun."
Sie fuhr herum. Sorin saß in einer Ecke voll Schatten und beobachtete sie. Seine Augen waren das einzig Helle und leuchteten in der Dunkelheit. „Doch, muss ich. Wir brauchen das Geld."
„Ich sehe doch, wie es dich verändert", beharrte er. „Ich will nicht, dass du dich veränderst. Jede Nacht, wenn du nach Hause kommst, weinst du dich in den Schlaf. Meinst du, ich merke das nicht?"
„Ich komme schon damit klar, Sorin. Vertrau mir." Da Lia keine Zeit zum Diskutieren hatte, wandte sie sich ab und machte sich auf den Weg. Mit Sorins Blicken im Rücken schlüpfte sie aus der Halle. Der Himmel breitete sich wie ein schwarzes Tuch über ihr aus und tauchte alles in Dunkelheit und Schatten. Sie begann zu laufen. Oft genug war sie schon seit ihrer Kindheit über dieses Feld gerannt, trotzdem blieb das Risiko, sich den Fuß umzuknicken oder zu stürzen. Wohlbehalten erreichte sie schließlich die Stadt, huschte durch verlassene Gassen, die zu dieser Zeit genauso leer waren wie bei Tage, und durch solche, die bei Nacht belebter waren als am Tag. Hier schlichen nur armselige Kreaturen herum, die nicht fragten und sich ausschließlich um die eigenen Angelegenheiten kümmerten. So wie sie. Sie senkte den Kopf, sodass ihr Gesicht in den Schatten ihrer Kapuze lag und bewegte sich lautlos über das kaputte Pflaster. Endlich kam sie bei dem dunklen Hintereingang an und klopfte an die Tür. Licas machte ihr die Tür auf. Er war groß und schlaksig und rothaarig. Sein Gesichtsausdruck blieb starr und seine Augen verrieten nichts. Er machte Lia Platz und sie trat ein.
„Ist Virginia schon da?", fragte sie und sah sich zu ihm um. Er nickte. „Okay, ich geh mich dann mal umziehen." Wieder nickte er. Sprechen konnte er nicht. Als er klein war, hatten ihn die Kinderfänger ein Mal gefangen. Durch Fragen, die er mit Nicken oder Kopfschütteln beantworten konnte, hatten Lia und Ginny rausgefunden, dass man dort den Kindern die Zungen rausschnitt, damit sie den Passanten nichts erzählen konnten. Dann wurden sie auf die Straße geschickt und zum Stehlen gezwungen. Licas hätte fast das gleiche Schicksal ereilt, doch er hatte fliehen können und arbeitete nun bei Toma in der Bar. Beim Kistenschleppen musste man nicht viel reden können.
Der Flur, durch den Lia ging, war heruntergekommen. Die Wände bestanden aus Beton, es gab keine richtigen Lampen, sondern nur Glühbirnen, und keine Fenster. Als sie in dem kleinen Raum ankam, in dem schon ihre Kleider lagen, zog sie ihren Pullover aus. Ihr war unwohl dabei. Am liebsten wäre sie mit ihren üblichen Anziehsachen nach vorne gegangen oder gar nicht, aber so ließ sich kein Geld verdienen. Es folgten Hose, T-Shirt und Unterwäsche. Sie legte alles ordentlich gefaltet auf den Stuhl und nahm die Stofffetzen, die man kaum noch als Kleidung bezeichnen konnte: ein schwarzer Spitzen-BH, ein passendes Höschen mit Rüschen und Spitzenstrümpfe, die bis über die Knie reichten. Dazu hohe Absatzschuhe. Als sie alles angezogen hatte, setzte sie sich vor den Spiegel, schwärzte ihre Lider mit Asche und malte sich die Lippen mit roter Farbe an. Dann toupierte sie sich die Haare und hielt sich Eis aus dem Kühlschrank an die Wangen, sodass diese schön rosig wurden vor Kälte. Im dunklen Licht der Bar würde keiner merken, dass es keine richtige Schminke war. Das hatten sie nie. Schließlich war alles fertig, sie schloss die Augen und atmete tief durch. Als sie sie wieder öffnete, war sie eine andere.
Sie ging durch einen anderen Flur zur Bar, während sie erfolgreich den Drang unterdrückte, zurückzulaufen und ihren Pullover wieder überzuziehen. Ein dicklicher Mann mit sprödem dünnen Haar und einer von Tatoos zerstochenen Haut stand hinter dem Tresen und schenkte einer Kundin ein Lächeln, das wohl verführerisch sein sollte.
„Hey, Toma“, rief Lia und ging auf ihn zu. Er drehte sich zu ihr um und ließ zuallererst seinen Blick genüsslich über ihren Körper wandern. „Ich bin jetzt da“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust in dem kläglichen Versuch, wenigstens etwas von ihrer Würde zu bewahren.
„Na, worauf wartest du? Fang an!“
Lia verließ den Verkaufsbereich und begab sich unter die Kunden. Ginny war bereits mitten im Gewühl. Sie saß auf dem Schoß eines Mannes, der wahrscheinlich doppelt so alt wie sie war. Lia verzog sich der Magen vor Abscheu, aber sie riss sich am Riemen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ein paar Männer saßen auf Barhockern an der Theke, aber sie schienen an nichts anderem als ihrem Getränk interessiert. In der hinteren Ecke des Raumes saß ein Mann, der ihr anzüngliche Blicke zuwarf. Er hatte dunkles Haar und sah irgendwie ausländisch aus. Lia seufzte innerlich und bahnte sich einen Weg durch die Kunden zu ihm hin. Er empfing sie mit offenen Armen.
Zuallererst fuhr er mit seinen Händen über Rücken und Po und zog sie sich dann auf den Schoß. Begierig wanderten seine Hände über ihre Brust, über ihren Bauch. Und auch wenn ihr vor Abscheu schlecht wurde, reagierte ihr Körper in freudiger Erregung. Auch nach all den Malen noch. Als er seine Finger über ihren Oberschenkel gleiten ließ, verkrampfte sich ihr Körper und sie musste sich zusammenreißen, um nicht die Beine zusammenzupressen, als er weiter ging, als ihr lieb war.
„Lass uns hoch gehen“, flüsterte er Lia ins Ohr. Sein Atem stank nach Alkohol.
„Was ist mit Ihrem Getränk?“, fragte Lia und deutete auf das halbleere Glas, das auf dem Tisch stand.
„Das kann warten.“ Der Mann grinste.
Lias Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken an das, was gleich folgen würde, aber ihr blieb keine Wahl. Sie tat es für ihre Geschwister, für Elisei, für Florica und Sorin, und für ihre Tochter Oana. Damit sie leben konnten. Sie brauchten Geld, und zwar dringend.
Sie zwang sich zu einem verführerischen Lächeln und ging vor. Der Fremde folgte ihr mit lüsternem Blick ins Obergeschoss zu einem der Zimmer, in dem es nichts als ein Bett und Ungeziefer gab.

Sie lauschte auf die Stille im Raum und auf seinen Atem. Der Mann lag neben ihr, nackt und verschwitzt. Als sein Atem endlich gleichmäßig und langsam ging und er schon leise zu schnarchen anfing, stand sie auf. So schnell und lautlos wie möglich zog sich Lia an, die Stofffetzen des vergangenen Abends, huschte zur Tür und schlüpfte auf den Flur. Der Boden knarzte, doch der Mann schlief tief und fest. Es war noch dunkel, aber sie war sich ziemlich sich, dass sie schon Morgen hatten. Das Mädchen lief eine Treppe hinunter und durch einen Flur im Erdgeschoss in den Raum, in dem sie sich am Tag zuvor umgezogen hatte, und wechselte wieder die Kleider. Dann ging sie in die Bar, in der Toma noch die Gläser spülte. Er schlief tagsüber, wenn die Bar geschlossen hatte.
„Toma? Ich geh jetzt“, sagte sie, froh, wieder ihre gewohnten Sachen zu tragen.
„Tu das.“ Toma ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und polierte weiter Gläser. Das Wasser und die Tücher waren allerdings so schmutzig, dass die Gläser nicht wirklich sauber wurden. Wieder etwas, das im dämmrigen Licht, das abends im Raum herrschte, vertuscht wurde.
„Das Geld“, erinnerte Lia ihn.
Grinsend drehte er sich zu ihr um. „Du kleines, gieriges Luder. Ich hab das Geld noch nicht. Du kriegst es das nächste Mal.“ Damit wandte er sich wieder dem Geschirrspülen zu.
„Ich brauche das Geld aber jetzt.“ Zorn wallte in ihr auf. „Du schuldest mir bereits einiges. Gib es mir, oder du bist mich los und dann hast du ein Problem“, zischte sie, doch er ließ sich nicht beeindrucken.
„Falsch“, erwiderte er ungerührt, „ich habe immer noch Ginny. Außerdem glaube ich nicht, dass du hier irgendwelche Forderungen stellen kannst. Denn, wie du bereits sagtest: Du brauchst das Geld.“ Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen spöttischen Blick zu.
Lia starrte ihn noch einen Moment fassungslos an. Dann drehte sie auf dem Ansatz und rauschte davon. Es stahlen sich bereits Tränen der Wut in ihre Augen, als sie sich an Licas vorbeidrückte, vielleicht ein wenig zu rücksichtslos, schließlich konnte er nichts dafür, und ohne ein Wort durch die Hintertür verschwand. Mit der Kapuze im Gesicht rannte sie los, sobald sie auf offenem Feld war. Sie rannte, während ihr die Tränen die Sicht verschleierten, doch sie lief immer weiter, bis sie schließlich bei der Fabrik ankam. Sie schlüpfte in die große Lagerhalle und verkroch sich so schnell es ging in ihrem Bett. Sie weinte vollkommen lautlos. Das hatte sie oft genug geübt. Sie war wütend auf Toma und auf ihr Leben, das sie zu so etwas zwang, und auf ihre Eltern, die sie verlassen hatten, auf die Kinderfänger, die sie zum Verstecken zwangen, und überhaupt. Und sie ekelte sich. In erster Linie vor sich selbst.
Plötzlich hockte sich jemand neben sie. Lia rollte sich auf den Rücken. Es war Sorin. Er legte sich an ihre Seite und nahm sie stumm in den Arm. An seiner Brust weinte sie weiter. Er konnte sie nicht verstehen, niemand konnte das, aber er war wenigstens da. Er wandte sich nicht vor Abscheu von ihr ab, weil sie tat, was sie tat. Er liebte sie, und das wusste Lia auch. Er war ihr Bruder, ihre Familie.

Gezwungen #BestsellerAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt