Sie musste sich die Haare abschneiden. Er hatte sie gesehen und wenn er sie verriet, würde man zuerst auf ihre langen Haare achten. Am besten wäre es, sie würde sie auch noch färben, aber über solche Mittel verfügten sie nicht. Sorin besaß eine kleine Schere, die er einmal in einem Billigladen erstanden hatte und die ihnen seit jeher gute Dienste geleistet hatte. Lia saß auf dem staubigen Fußboden und er schnitt ihr die Haare. Am liebsten hätte sie geweint, denn sie mochte ihre Haare, die immer wellig, aber nicht zu lockig gewesen waren, aber sie wusste, dass es sein musste. Strähne um Strähne fielen auf den Boden, Locke um Locke. An ihrem Nacken wurde es immer kühler, bis schließlich nichts mehr da war, um sie zu wärmen. Am Ende waren die Haare nur noch so lang wie ihr Daumen. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Kurzhaarfrisur.
„Also mir gefällt's“, meinte Sorin lächelnd.
„Danke“, murmelte Lia und sah zu Boden.
„Sie werden wieder nachwachsen“, tröstete er.
„Ich weiß“, seufzte sie und stand auf.
„Ich werde mich heute in der Stadt umsehen, wem wir den Schmuck verkaufen können, ohne dass dieser uns verrät“, informierte Sorin sie und zog sich seinen Pullover über. „Kommst du nicht mit?“, fragte er sie schließlich irritiert, als er sah, dass sie sich nicht rührte.
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich will mich noch ein bisschen ausruhen.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Für heute Abend.“
Sorin ließ ihre Aussage unkommentiert, aber in seinen Augen konnte man die Ablehnung erkennen, die er dagegen hatte. Unmerklich schüttelte er den Kopf und schlüpfte dann aus dem Fabrikgebäude.
Lia konnte nicht wirklich einschlafen. Sie hatte Angst, aber sie wusste nicht, wovor. Dass sie sich vor ihren Gefühlen fürchtete, wollte sie sich nicht eingestehen. Schließlich setzte sie sich auf und nahm Oana in den Arm, die vorher friedlich in ihrem Bett aus zusammengerollten Decken geschlafen hatte. Florica und Elisei spielten irgendwo in der großen Fabrik. Eine Träne rollte ihr über das Gesicht. Sie verstand nicht genau, warum sie weinte. Sie wusste nur, dass sie aus irgendeinem Grund noch trauriger war, als sonst, und das lag nicht allein an den Haaren.Irgendwann gegen Nachmittag kam Sorin mit einigen Bananen zurück, von denen sie welche zum Mittagessen aßen, und am Abend zog sie sich ihren Pullover an und machte sich ihrerseits auf den Weg in die Stadt. Licas begrüßte sie genauso herzlich wie immer, nämlich gar nicht. Im kleinen Nebenzimmer sah sie in den Spiegel. Ihr erster Blick fiel auf ihre neue Frisur. Sie war gar nicht so schlecht, befand sie nun. Musste sie befinden. Lia brachte die ganze Tortur hinter sich und ging in die Bar.
Als Begrüßung brachte sie nur ein bitteres Hallo raus, bevor sie sich sofort wieder von Toma abwandte. Doch er hielt sie am Handgelenk fest.
„Hast du dir etwa die Haare abgeschnitten?“, zischte er. „Meine Kunden mögen lieber lange Haare. Am liebsten blond, so wie Ginny. Dir ist doch wohl klar, dass ich dir das vom Lohn abziehen muss?“
Lia blickte ihn nur ausdruckslos an. Eine Lohnkürzung erschreckte sie, zumal sie sowieso nur so wenig bekam, aber das wollte sie ihm nicht zeigen. „Nun geh schon.“ Damit schubste er sie auf die Kunden zu. Einer winkte sie zugleich zu sich. Er war noch jung und sah eigentlich nicht schlecht aus, aber er hatte eindeutig schon das ein oder andere getrunken. Unsanft drückte er seine Lippen auf ihre und drückte sie an sich. Als er sie schließlich genug begrapscht hatte, schickte er sie, ihm noch einen Drink zu besorgen und sie machte sich erleichtert wieder auf den Weg zur Bar zurück. Toma mixte sofort irgendwas zusammen, als sie die Bestellung aufgab. Sie nahm das Glas.
„Vater, wieso bringst du mich hier her?“
Vor Schreck ließ sie das Glas fallen. Sie wusste wem die Stimme gehörte, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Nicht umdrehen, dann wird er dich nicht erkennen, sagte sie sich und kniete sich um die Scherben aufzusammeln.
„Oh Mann, Lia! Man könnte meinen, du hättest dir ebenfalls schon einen reingezogen! Das zieh' ich dir auch ab, hast du verstanden?“, schrie Toma, außer sich vor Wut.
Nicht umdrehen. Er hat sich deinen Namen bestimmt nicht gemerkt. Weil ihre Hände so zitterten, schnitt sie sich an den Scherben.
„Nun geh schon. Licas, mach das sauber!“, befahl Toma dann und Lia stand sofort auf. Eigentlich hatte sie die Flucht ergreifen wollen, aber sie konnte nicht anders, als sich umzudrehen. Dort saß ein breiter Mann mit ordentlich zurückgekemmter Frisur, der sie spöttisch auslachte, und neben ihm: der Junge aus der Villa, der sie entgeistert anstarrte. Lia wirbelte herum und floh regelrecht zu ihrem ersten Kunden. Sie wusste nicht, warum, aber es war ihr unheimlich peinlich, dass er sie so sah. Zum ersten Mal in ihrem Leben überredete sie ihren Kunden, jetzt schon mit nach oben zu kommen. Als sie ihn hinter sich die Treppe hochzog, sah sie noch einmal zur Bar. Toma lachte mit dem Mann, sein Sohn sah sie nachdenklich über seinen Drink hinweg an.
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Gezwungen #BestsellerAward2018
General FictionAlleine. Keine Eltern. Kein Geld. Zu fünft wohnt Liana mit ihren Geschwistern und ihrer kleinen Tochter in einer verlassenen Fabrik in der Nähe von Arad, Rumänien. Der Taschendiebstahl auf dem Markt reicht nicht, um ihre Geschwister zu ernähren. Des...