Gezwungen - 27. Kapitel

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Sie weinte auf dem Weg nach Hause. Und sie weinte, als sie die Tür zu ihrem Haus aufschloss. Und sie weinte, als sie in die Bibliothek kam und Cosmin erschrocken aus seinem Sessel hochschreckte. Sie weinte vor Glück und Trauer gleichermaßen.
„Ich hab sie gefunden!" Lias Stimme rasselte und sie schluckte. Es war lange her, dass sie so laut gesprochen hatte. „Ich war in Horia auf dem Markt und ... Elisei wollte mich bestehlen. Er ... Er sah aus wie Sorin." Bei der Erinnerung traten ihr noch mehr Tränen in die Augen und sie schlug eine Hand vor den Mund.
Cosmin kam zu ihr, konnte kaum glauben, was sie erzählte, nahm sie in den Arm und hielt sie fest.
„Wir müssen sie befreien", flüsterte Lia gegen seine Brust. „Endlich haben wir eine Spur. Wir müssen nach Horia fahren. Ich bin ihnen nachgelaufen. Ich weiß, wo sie ihren Sitz haben."
„Okay", sagte Cosmin, drückte sie noch einmal und ließ sie dann los. Zwischen den Tränen konnte er die Lia erkennen, in die er sich vor Jahren verliebt hatte. Selbst wenn er noch nicht wusste, wie er damit umgehen musste, wusste er doch, dass er alles daransetzen würde, ihr zu helfen.
Er ging zu einer kleinen Kommode und nahm zwei Taschenlampen aus der obersten Schublade. Nachdem er getestet hatte, ob beide noch funktionierten, stellte er sie nebeneinander auf die Kommode und gab Lia ein Taschentuch.
„Wir fahren heute Nacht dorthin", sagte er.

Alles wirkte unwirklich im hellen Schein des Mondes und durch die Brille der Trunkenheit. Sie hatten am Abend weder Wein noch Sekt noch irgend einen anderen Alkohol zu sich genommen. Nein, nur die Hoffnung nach langen Jahren der Hoffnungslosigkeit. Liana hatte beinahe vergessen, wie es sich anfühlte, erfüllt zu sein. Aber nun wusste sie es. Nun erinnerte sie sich, was ihr so lange gefehlt hatte.
Alles bekam eine neue Farbe, einen anderen Geschmack. Cosmins Augen schienen blauer als sonst, sein Haar brauner. Die Bäume wirkten selbst im Dämmerlicht grün und der Himmel endlos weit.
Als sie Horia erreichten, war es bereits dunkel, die meisten Stadtbewohner schon in ihren Häusern. Durch die Fenster fiel warmes Licht auf das Pflaster der Straßen. Lia fühlte sich seltsam ausgeschlossen von dem Abend, den die Familien gemeinsam verbrachten. Doch bald würde ihr das auch wieder möglich sein. Nun hatte sie ein ganz anderes Ziel. Nachdem die zwei Polizisten zu ihnen gestoßen waren, führte sie sie und Cosmin mit sicheren und selbstbewussten Schritten zu dem unscheinbaren Haus, in dem sie ihre Geschwister hatte verschwinden sehen.
Sie vertraute den staatlichen Ordnungshütern noch immer nicht, aber Cosmin hatte sie davon überzeugen können, dass sie alleine kaum eine Chance hatten. Der eine von ihnen war klein und kräftig - eher einer, der nach vorne preschte und nicht nach links und rechts schaute. Im Gegensatz zum zweiten: Dieser war auf jeden Schritt bedacht, vielleicht zu sehr, denn sein Blick huschte unentwegt nervös hin und her.
„Hier ist es", meinte Lia und blieb stehen. Auch in diesen Fenstern brannte Licht. Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, dass hinter einem von ihnen womöglich ihre Geschwister waren. Die Polizisten überprüften ihre Waffen, dann gaben sie Cosmin und Lia Instruktionen, in Deckung zu gehen und ihnen ja nicht zu folgen. Lia gefiel das gar nicht, aber sie hatte keine Wahl. Cosmin zog sie mit sich in den Schatten.
Der kleinere der beiden, Francisc Dumitru, wie er sich vorgestellt hatte, pochte mit seiner Faust an die hölzerne Tür. Lange Zeit geschah nichts, es herrschte Stille. Lia befürchtete schon, sie würden nicht aufmachen und durch eine Hintertür verschwinden. Das hätte ihr bestätigt, dass sie es lieber auf ihre eigene Art hätte erledigen sollen. Doch dann wurde die Tür mit solcher Wucht aufgerissen, dass sie zusammenzuckte, obwohl sie nur in ihrem Versteck saß. Zu gern hätte sie gesehen, wer geöffnet hatte.
„Guten Abend. Wir sind von der Polizei und wir haben einen Durchsuchungsbeschluss vorliegen. Wenn Sie uns bitte einlassen würden?" Dumitru wirkte selbstsicher, wie er ihm das Dokument hinhielt. Offensichtlich wurde es auch gleich akzeptiert, denn kurz darauf betraten die beiden Polizisten das Gebäude. Die zuschlagende Tür hinterließ bloß Stille in der verlassenen Gasse.
Lia schaute zu Cosmin, den sie in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Nur das Weiß seiner Augen leuchtete. Sie konnte keine bestimmte Emotion in ihnen feststellen. Kurzerhand beugte sie sich zu ihm und küsste ihn auf seine weichen Lippen. Es war wie der erste Kuss seit langem, so intensiv war er. Sie spürte seine Hand in ihrem Haar, ihr Herz flatterte wieder. Plötzlich peitschte ein Schuss durch die Nacht. Sie zuckten auseinander. Angst machte sich in Lias Innerem breit. Was war geschehen? Von wem kam der Schuss? Und hatte er sein Ziel erreicht?
Lia sprang auf und machte Anstalten, das Gebäude zu stürmen.
„Halt, warte!", zischte Cosmin. "Du kannst da nicht einfach rein, das ist viel zu gefährlich!"
Doch Lia ließ sich nicht beirren. „Cosmin, ich muss." Ihre Stimme zeugte von ihrer Zerissenheit. Einerseits hatte sie selbst Angst und ihr Herz klopfte wie wild. Doch die unbedingte Gewissheit, dass es nur diese eine Option gab, nämlich dort rein zu gehen und ihre Geschwister zu retten, war übermächtig. „Das ist meine Familie."
Cosmin fluchte leise, dann folgte er ihr. Niemals würde er sie alleine gehen lassen. Wenn sie schon nicht auf ihn hören wollte, musste er sich wenigstens allen Kugeln in den Weg stellen, die sie vielleicht zu treffen versuchten.
Im Inneren des Gebäudes herrschte das reinste Chaos. Männer liefen umher, die Luft war geladen, das Licht gleißend hell. Wieder ein Schuss, wieder die Angst. So hatten sich die Polizisten den Einsatz ganz sicher nicht vorgestellt, als sie auf ihre Warnung, die Männer seien gefährlich, mit einem milden Lächeln geantwortet hatten. Obwohl es total widernatürlich war, liefen Cosmin und Lia die Treppe hinauf, dorthin, wo der Pistolenlärm herrührte. Kinder kamen ihnen entgegen, mit vor Angst verzerrten Gesichtern. Die meisten von ihnen nicht älter als fünfzehn Jahre. Besorgt suchte Lia sie nach ihrer Tochter ab, nach Elisei oder Florica, aber sie waren nicht dabei.
Cosmin nahm ihre Hand und zog sie weiter. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Auf der Treppe lag jemand. Mit Schrecken musste Lia feststellen, dass es der zweite Polizist war. Mit seinem langen Körper versperrte er bald die halbe Treppe. Seine Hand war auf seine Brust gepresst, aber der Mann war längst tot. Nun wurde auch ihr bewusst, worin sie hineingeraten waren. Ihre Eltern und vor allem Sorin hatten sie immer gewarnt vor Kinderfängern. Auch an Licas Beispiel hatte sie eine Ahnung davon bekommen, wie schrecklich grausam sie sein konnten. Doch dass sie auch töteten, warf ein neues Licht auf ihre Unmenschlichkeit. Den Ekel und die Übelkeit unterdrückend, stiegen Cosmin und Lia über die Leiche und fanden sich schon bald in dem obersten Stockwerk wieder. Hier herrschte eine seltsame Ruhe. Von hier waren die vielen Hausbewohner geflüchtet, die ihnen entgegen gekommen waren. Auch hier war es taghell. Das Obergeschoss bestand nur aus einem Flur und einem großen Raum. Ein weiterer Schuss ließ sie zusammenzucken. Für einen Moment waren ihre Ohren taub. Nun war er ganz nah. Cosmin und Lia wechselten einen unruhigen Blick.
„Wer hat dich hier hergeführt?" Eine unbekannte, aber sehr durchdringende Stimme schallte durch das Obergeschoss.
„Mein Pflichtgefühl meinem Beruf gegenüber erlaubt es mir nicht, darüber zu sprechen. Ich muss Sie nun leider festnehmen." Selbst in solch einer Situation zitterte die Stimme des Polizisten nicht. Als könnte deswegen alles gut werden. Als würde sich das Böse durch diese Autorität einschüchtern lassen. „Wegen Kindesentführung, Kindesmissbrauch und..." Dumitru zögerte nur einen Moment, aber es verriet zu viel seiner Unsicherheit. „Mord."
Der andere Mann lachte, und es war ein schreckliches Lachen. Nicht mehr von dieser Welt. Grausam. Ein weiterer Schuss ließ die Luft vibrieren, hinterließ Stille in ihrem Kopf. Es war hell, es roch nach Blei, der Staub kitzelte in ihrer Nase, und gleichzeitig war es ruhig. Zum ersten Mal verstand Lia, woher das Sprichwort die Ruhe vor dem Sturm kam. Sie war sich sicher, dass auch diese Kugel ihr Ziel nicht verfehlt hatte. Wenn sie diesen Raum nun betrat, würde sie vermutlich sterben. Doch für ihre Geschwister würde sie das in Kauf nehmen. Ihr Entschluss stand fest.

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