Gezwungen - 7. Kapitel

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Lia war sofort wach, als Sorin am nächsten Tag leicht an ihrer Schulter rüttelte, um sie zu wecken. Leise stand sie auf und ging zu Oanas Bett. Sie musste ihr noch zu trinken geben, bevor sie gingen, weil ein kleines Kind wie sie noch nicht verstand, was Hunger war. Einmal hatte sie es nicht getan. Als Sorin und sie wieder von ihrem Streifzug heimgekommen waren, waren Florica und Elisei ganz verzweifelt gewesen, weil sie nicht gewusst hatten, wie sie Oana beruhigen sollten.
Lia weckte ihre Tochter mit einem Kuss auf die Stirn. So machte sie es seit jeher. Sie liebte das Lächeln, das ihr Oana daraufhin jedes Mal schenkte. Lia hob das kleine Bündel aus seiner Schlafstätte und schob ihren Pullover hoch, um das Baby zu stillen. Oana trank meist nie länger als zehn Minuten. Anschließend nahm Liana noch das kleine Stück Brot von Sorin entgegen und biss davon ab. Es war gerade so groß wie ihre Handfläche, aber sie hatte gelernt mit der wenigen Nahrung auszukommen. Als beide Geschwister mit ihrem Brotkanten fertig waren, schoben sie sich ihre Kapuzen über den Kopf und verließen schweigend das alte Fabrikgebäude. Eigentlich genoss sie schon fast die Taschendiebeleien auf dem Markt: Das war schon so einstudiert, dass es keine große Sache mehr war, ihm Vergleich zu ihrer Arbeit in der Bar war es ein Kinderspiel und sie machte es zusammen mit ihrem Bruder, was das Gefühl von Einsamkeit ausschloss. Er stand für ihre Familie und ihre Familie gab ihr Kraft, denn für sie tat sie das alles.
Als sie den Markt betraten, ging Sorin kurze Zeit langsamer, um Lia einen Vorsprung zu lassen. Dann mischte auch er sich unter die Marktbesucher. Die meisten Einwohner Arads gingen morgens oder vormittags einkaufen.
Doch an diesem Vormittag war Lia sehr unkonzentriert und unbedacht. Als sie eine Geldbörse aus einer Tasche ragen sah, hätte sie sich eigentlich zuerst den Besitzer anschauen müssen, ob er aufmerksam war oder nicht. Aber sie achtete nicht darauf. Stattdessen rempelte sie die Person ganz unbeabsichtigt an, entschuldigte sich und griff nach dem Portemonnaie. Sie war noch keine zwei Schritte weiter und hatte ihre Beute noch nicht an Sorin weitergeben können, als sie eine Stimme hinter sich vernahm.
„Hey, Kindchen.“
Lia ignorierte die Stimme, aber ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Plötzlich spürte sie eine Hand an ihrem Arm. Sie gehörte zu einer Frau, die stark genug war, sie herumzuwirbeln. Lia sog erschrocken die Luft ein.
„Meinst du, du könntest mir einfach mal so mein Geld klauen? Denkst du, ich hätte nicht bemerkt, dass du mich absichtlich angerempelt hast?“, keifte die Frau. Auch wenn man es bei ihrer Kraft nicht glauben mochte, war sie schon älter, aber kräftig gebaut. Im Nuh hatte sich um die beiden ein menschenleerer Kreis gebildet. Schaulustige waren stehen geblieben, um das Geschehen mitzuverfolgen.
Lia starrte die ältere Dame nur an, unfähig sich zu rühren, oder auch nur zu sprechen.
„Gib mir sofort mein Geld zurück“, rief die Frau. „Und außerdem will ich Schadensersatz. Diebstahl muss bestraft werden!“
Lia reichte ihr die Geldbörse. „Es tut mir wirklich leid, aber...“, begann sie, doch die Alte unterbrach sie.
„Das glaub ich nicht. Du würdest es bestimmt wieder tun. Ihr Straßenkinder seid alle gleich. Huren als Mütter, die sie zurückgelassen haben, weil sie sie nicht gebrauchen konnten und sie noch dazu zu hässlich waren, um den gleichen Beruf wie sie auszuüben. So mitleiderregend, dass man heulen könnte, aber hintenrum so fies, uns anständige Leute zu betrügen und zu bestehlen! Und jetzt will ich das Geld. Mindestens hundert!“
Lia kochte vor Wut, aber sie wusste, dass sie, wenn sie jetzt widersprach, alles nur schlimmer machen würde. Außerdem wollte sie der alten Frau nicht unter die Nase reiben, dass sie offenbar nicht zu hässlich war, um als Prostituierte zu arbeiten. Stattdessen versuchte sie, ihren Zorn so gut es ging runter zu schlucken, und sagte leise: „Ich habe aber keine hundert Lei. Was meinen Sie, warum ich versucht habe, Sie zu bestehlen?“
„Soll ich etwa die Polizei rufen?“, fragte die Frau nun fordernd. „Ich wollte dir nur eine Entschädigung durch Geld anbieten anstelle der Polizei, aber wenn du nicht willst...“
„Ich kann verdammt noch mal nicht. Ich habe kein Geld“, erwiderte Lia nun doch heftig.
„Na dann tut's mir wirklich leid, obwohl, eigentlich tut's mir gar nicht leid, aber...“
„Halt“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Lia, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. „Ich bezahle für sie. Wie viel?“ Die Person stand nun neben ihr, aber sie wendete nicht ihren Blick zur Seite, um zu sehen, wer es war. Das war auch gar nicht nötig. Sie wusste, dass es Cosmin war.
„Fünfhundert, mindestens“, antwortete die Frau.
Lia keuchte auf. „Eben waren es nur hundert.“
„Tja, Schätzchen. Die Zeit, die ich hier mit dir verplempere, kostet natürlich auch“, erwiderte die Alte. Aber Cosmin zückte ohne eine Miene zu verziehen sein Portemonnaie und gab ihr fünfhundert Lei. Die Frau steckte sie zufrieden ein. Dann wandte sie sich noch einmal an Lia: „Und du versuchst es besser nicht noch einmal bei mir.“ Damit drehte sie sich um und lief davon. Auch die Menge verlief sich langsam.
Lia drehte sich zu Cosmin um. „Danke... aber ich werde dir das Geld zurückzahlen.“
„Das musst du nicht. Für mich war das nicht viel“, meinte Cosmin.
„Trotzdem. Ich will bei niemandem Schulden haben.“ Damit drehte sich auch Lia um und ging davon. Bei niemandem Schulden zu haben, war eigentlich ein unmöglicher Plan, wenn man bedachte, dass sie jeden Tag stahl. Aber diese Diebstähle zählte sie nicht zu den Schulden. Zumindest redete sie sich ein, dass sie nicht dazu gehörten. Im Grunde ihres Herzens hegte sie nur den Wunsch, ein normales, ehrliches Leben zu führen.

„Wer war das? Warum bezahlt er für dich?“, fragte Sorin sofort, als sie in eine verlassene Gasse kamen. In seiner Stimme konnte man unverhohlene Wut und Eifersucht erkennen.
Lia seufzte und ließ sich auf die Stufen einer staubigen Steintreppe sinken, die zu einem Hauseingang führte. „Ich kenne ihn aus der Bar“, antwortete sie, zog sich die Kapuze vom Kopf und fuhr mit ihren Händen durch ihre Haare. Dass sie nur noch so kurz waren, daran hatte sie sich noch lange nicht gewöhnt.
„Was? Dann will er dich nur ausnutzen!“ Sorin verschränkte die Arme vor der Brust. Weil er mit dem Rücken zur Sonne stand, lag sein Gesicht im Schatten der Kapuze. So sah er richtig gefährlich aus.
„Nein, so ist es nicht“, widersprach Lia. „Eigentlich kenne ich ihn schon von dem Einbruch in der Villa. Er war es, der mich dort gesehen hatte, und als er dann mit seinem Vater in die Bar kam, hat er mich wiedererkannt. Er ist dann gestern wiedergekommen, um mit mir zu reden.“
„Hat er dich ausgefragt? Hast du was erzählt?“
Lia war sich bewusst, dass er nur aus Sorge um sie und die anderen so reagierte, aber manchmal wünschte sie sich, er würde ihr mehr vertrauen. „Nein, ich habe nichts gesagt, was ihn oder jemand anderen zu euch führen könnte. So blöd bin ich auch nicht.“
„Gut“, sagte er und wandte sich ab, „lass uns heimgehen.“
„Soso?“
„Ja?“ Er drehte sich noch einmal zu ihr um.
„Es tut mir wirklich leid. Ich hätte besser aufpassen müssen, dann wäre das alles nicht passiert.“
Endlich löste Sorin seine Arme aus der Verschränkung und streckte sie ihr entgegen. Lia stand auf und ging zu ihm, um ihn zu umarmen. Er schlang die Arme um sie und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie konnte seinen Herzschlag hören.
„Ich weiß, die Versuchung ist immer groß“, sagte Sorin, „aber wir müssen jedes Mal wieder so aufmerksam sein, wie beim ersten Mal. Denke immer daran, für wen du das tust und wie wichtig es ist, dass wir das Geld stehlen.“
„Ja“, murmelte Lia.
„Wir schaffen das schon.“
„Aber wie lange noch? Bis wir alt sind?“
Darauf wusste Sorin auch nichts zu erwidern. Stattdessen sagte er: „Ich weiß es nicht. Man darf nur die Hoffnung nicht verlieren.“
Sie schwiegen einen Moment und verharrten in der Umarmung.
„Ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch.“
Schließlich lösten sie sich wieder voneinander und gingen nach Hause. Diesmal ohne Beute. Ohne Nahrung für ihre Geschwister. Wieder einen Tag hungern.

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