Gezwungen - 24. Kapitel

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Die Zeit heilt keine Wunden - sie macht sie nur erträglicher. Man gewöhnt sich an den Schmerz, bis man ihn irgendwann ignorieren kann. Darauf baut man dann seine Zukunft auf. Es ist ein wackeliges Gerüst. Aber wenn nichts dazwischen kommt, hält es das ganze restliche Leben.
Lia dachte nicht mehr darüber nach, in der Hoffnung, es vergessen zu können. Anfangs hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt. Wenn sie in sich hineinhorchte, hatte sie das immer noch, aber nun ging es ihr besser. Auch über ihre Schuldgefühle durfte sie nicht nachdenken, damit das Gerüst nicht zusammen fiel. Das Gerüst, auf dem sie ihr Leben als reiche Ehefrau aufgebaut hatte. Zwölf lange Jahre hatte sie dafür Zeit gehabt. Jahre, in denen sich viel verändert hatte.
Lia stand auf und verließ das Schlafzimmer. Im Nachthemd ging sie leise zur Bibliothek. Unter der Tür leuchtete das Licht einer Leselampe hervor. Sie öffnete die Tür und betrat den großen Raum. Cosmin saß in einem der Sessel unter der Lampe, sein Buch auf dem Schoß. Das hatte er schon gemacht, seit Lia ihn kannte: nachts lesen. Er sah auf, als sie reinkam, und lächelte.
Sie trat zu ihm und setzte sich zu seinen Füßen auf den Teppich. Ohne ein Wort stützte sie ihr Kinn auf sein Knie und griff nach seiner Hand. Schließlich ließ sie sie wieder los, nahm ihr Buch und schlug es auf. Er hatte es ihr beigebracht. Die Geschichten zu lesen und zu verstehen. Sie hatte es gebraucht. Vielleicht als Ausflucht, aber in dem Moment war ihr das egal. Draußen schmiegte sich die Dunkelheit an die Scheiben der Terrassentür, doch drinnen konnte man nichts fühlen außer Wärme und traute Zweisamkeit. Sie liebte ihn nun schon so lange, ohne ihn könnte sie niemals mehr leben. Er war alles, was sie noch hatte, nachdem das Schicksal ihr ihre gesamte Familie genommen hatte.
Sie hob die Hand, die nicht das Buch offen hielt, und streckte sie nach seiner aus. Er nahm sie und hielt sie fest. Und sie hielt sich an ihm fest, so wie sie es gelernt hatte in all den Jahren. Sie hatte ihn zu ihrem Anker gemacht, ohne den sie vom Wind verweht würde, der Anker, der sie ans Leben kettete und am Leben hielt.
Lia schlug das Buch zu und stand auf. Nachdem sie Cosmin sein Buch abgenommen und auf den Tisch gelegt hatte, setzte sie sich auf seinen Schoß und zog die Knie an. Gleichzeitig schlang sie ihren Arm um ihn und legte ihre Lippen auf seine. Er drückte sie so fest wie möglich an seine Brust und sie bettete ihren Kopf an seinen Hals. Sie weinte nicht, das hatte sie lange nicht mehr getan, aber sie brauchte seine Nähe.
Doch näher waren sie sich nicht mehr gekommen. Keiner von ihnen wusste, ob es noch angebracht war, nach allem, was passiert war. Cosmin hatte Angst, wie Lia reagieren würde, für ihn war sie sehr zerbrechlich geworden, und sie wusste selbst nicht mal, was sie davon halten sollte. Sie waren schlagartig erwachsen geworden. Beide hatten wichtige Menschen verloren und waren nun allein in die kalten Fluten des Lebens geworfen worden. Weder Cosmin noch Lia wusste, ob man sich einen solchen Moment nehmen konnte, in dem man nicht kämpfte.
„Ich liebe dich", murmelte Lia leise.
„Ich dich auch", erwiderte Cosmin.
Sie küsste ihn wieder. Es waren keine lustvollen Küsse mehr, sie hatten ihre Leidenschaft verloren. Vielmehr waren es Küsse des Zuspruchs. Sie waren füreinander da und würden es immer sein. Denn das Band zwischen ihnen war gewachsen mit der Zeit. Selbst wenn es in ihrer Liebe nicht mehr um Lust und Leidenschaft ging, waren sie sich doch beide ihrer Bestimmung für einander bewusst.
Lia umarmte ihn wieder und küsste ihn noch einmal, bevor sie beschlossen, noch einmal ins Bett zu gehen. In seinen Armen schlief Lia ein, in seiner Sicherheit und seiner Geborgenheit, aber dennoch wachsam, falls nicht doch mal eine kalte Welle über Bord schwappte.

Gezwungen #BestsellerAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt