Gezwungen - 4. Kapitel

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Es war dunkel, nicht ein Stern war am Himmel zu sehen. Die perfekte Nacht. Lia wusste nicht wie, aber Sorin hatte es geschafft, das Küchenfenster im Erdgeschoss zu öffnen. Leise, und bemüht, kein Geräusch zu machen, stiegen Liana und Sorin in das Haus ein. Die Küche war riesig und dutzende Kessel und Töpfe, Löffel und Zangen und andere Küchengeräte waren auf den Regalen aufgereiht oder hingen an den Wänden. Ab diesem Zeitpunkt tat es Lia nicht mehr leid und sie hatte auch keine Schuldgefühle an dem, was sie taten. Es war zwei Wochen her, dass sie mit ihrem Bruder im Museum war. Zwei anstrengende Wochen der Planung. Elisei und Florica wussten über ihren Plan bescheid. Nur schwerlich hatten Sorin und Lia die beiden abhalten können, bei diesem Unternehmen dabei zu sein. Besonders Elisei war hartnäckig gewesen.
Zielstrebig schlich Sorin zu einer der drei Türen. Nun zahlten sich die Studien im Museum aus: Er wusste genau, wo sie lang mussten. Sie schlichen durch zahlreiche Flure und wäre es nicht so dunkel gewesen, Lia wäre vor Staunen stehen geblieben und hätte den Mund nicht mehr zugekriegt. So konnte sie nur erahnen, welche Reichtümer an den Wänden hingen. Schließlich kamen sie in einen Salon mit einem goldenen Sofa, dessen Sitzfläche aus rotem Samt bestand. Daneben stand ein kleines Holztischchen. Auch wenn Lia noch nie in einer Villa in der Stadt gewesen war, so wusste sie doch, dass es nicht in jedem Gebäude so aussah. Manche Eigentümer hatten ihre Villen weitaus moderner eingerichtet als dieser, der wohl großen Wert auf den antiken Stil legte.
„Eine Tür weiter liegt die Bibliothek. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass uns jemand hört, wenn wir leise sind“, flüsterte Sorin und ging zu einer verschnörkelten Kommode. Er öffnete die Schubladen und holte den Schmuck hervor, der darin untergebracht war. Goldene Ketten mit eingefassten Edelsteinen. Armreife mit Blattmuster. Ringe, die einzeln wertvoller aussahen, als das Eigentum von Lia und ihrer Familie zusammen. Ihr stockte der Atem. Sorin packte so viel er konnte in seinen Rucksack, während sich Lia abwandte und den Gemälden an der Wand widmete. Die Ölbilder waren in goldenen Rahmen ordentlich an die tapezierte Wand gehängt worden. Das eine zeigte eine Waldlandschaft, wie sie Lia noch nie gesehen hatte. Zugegebenermaßen war sie auch noch nie außerhalb Arads und Umgebung gewesen und kannte nur solche trockenen Landschaften. Rechts unten stand der Name des Malers und der Titel: rain forest. Lia war nie in der Schule gewesen und hatte keine Ahnung, was der Titel bedeutete. Sie wollte gerade Sorin danach fragen, als neben ihr die Tür zur Bibliothek aufging und sie in gleißendes Licht tauchte. Lia blinzelte, bis sich ihre Augen an die Lichtveränderung gewöhnt hatten. Schlauer wäre es gewesen, sofort Reisaus zu nehmen, aber aus einem ihr unerfindlichen Grund tat sie es nicht.
„Hallo?“, fragte eine tiefe aber angenehme Männerstimme. „Wer bist du?“
Lia atmete scharf aus. Er hatte Sorin also noch nicht gesehen. Nun konnte sie die Silhouette des Mannes ausmachen. Braunes Haar hatte er und war einen Kopf größer als Lia. Seine Schultern waren breit, aber er machte einen relativ entspannten Eindruck. Es irritierte sie, dass er nicht im Begriff war, die Polizei zu rufen.
„Komm schon, Lia!“, rief Sorin und riss sie aus ihrer Erstarrung. Augenblicklich wirbelte sie herum und lief ihrem Bruder hinterher. An der Tür, die aus dem Salon führte, warf sie einen Blick zurück. Der junge Mann sah ihnen nach. Die Häfte seines Gesichts war nun ins Licht der Lampen in der Bibliothek getaucht und Lia konnte ihn besser erkennen als zuvor. Er war hübsch und er blickte ihr mit einem ausdruckslosen Blick nach. Noch immer machte er keine Anstalten, ihnen zu folgen oder jemanden zu rufen. Dann drehte sich Lia wieder um und musste alles geben, um ihren Bruder einzuholen. Sie entkamen und rannten so lange sie konnten durch die Straßen und aus der Stadt raus. Erst als sie wieder bei der Fabrik waren, kamen sie zur Ruhe. Flori und Elisei staunten über die Kostbarkeiten, die sie mitgebracht hatten, aber Lia nahm es nur wie durch einen Schleier wahr. Mit den Gedanken war sie die ganze Zeit bei dem Mann und dem Moment und dem Ausdruck in seinem Gesicht, als er ihr nachgeblickt hatte.

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