Gezwungen - 3. Kapitel

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„Das ist doch unfair. Es gibt solche wie uns, die wir klauen gehen müssen, um unsere eigenen Geschwister zu ernähren und es doch kaum können. Es gibt die, die auf der Straße sitzen und betteln, weil sie zu alt oder krank zur Kriminalität sind. Und es gibt Leute, die machen es sich in solchen riesigen Luxusvillen bequem und das einzige, um das sie sich kümmern, ist das Essen und wie sie aussehen.“ Wütend und mit einem angeekelten Gesichtsausdruck deutete Sorin auf eine dieser Prachtvillen. Das Gebäude hatte drei Hauptstockwerke, ein Geschoss unter dem rot gekachelten Dach, ein Erdgeschoss und wahrscheinlich noch mindestens ein Kellergeschoss. Das Hauptgebäude bestand aus einem großen quaderförmigen Klotz, dessen Ecken zu Türmen ausgerundet waren, die bestimmt einen Durchmesser von fünf Metern hatten. Es gab drei Balkone an der Fassade, für den ersten, den zweiten und den dritten Stock einen, und die gelb gestrichene Wand war durch viele weiße Stuckmuster verziert. Die Sonne brach sich in den großen Fenstern.
„Ja, ich weiß, Sorin“, meinte Lia niedergeschlagen, „aber daran können wir auch nichts ändern.“ Sie nahm ihn am Ellenbogen und wollte ihn weiterziehen, aber er stellte sich dagegen und da er älter und stärker war als sie, hatte sie keine Chance.
„Doch, das können wir“, meinte er stur.
„Sorin, wir sind zu unbedeutend, um etwas ändern zu können“, versuchte Lia, ihn wieder auf den Boden zurück zu holen.
„Wir können vielleicht nicht viel bewirken, aber wir können ein Exempel statuieren.“ In seinen Augen flackerte eine wilde Entschlossenheit auf, die Lia fast ein wenig Angst machte. „Komm mit.“
Er zog sie durch die Straßen und Gassen ihrer so vertrauten Heimatstadt Arad, wobei er ihren Arm so fest umklammert hielt, dass es ihr wehtat. Endlich blieb er vor einem großen modernen Gebäude stehen. Lia erkannte es als das Museum und Stadtarchiv. Sorin betrat das Gebäude ohne zu zögern.
Lia fragte ihn, woher er das Geld für den Eintritt herhätte, doch er zuckte nur mit den Schultern und meinte, er hätte es zusammengesammelt. Was bedeuten würde, dass er das schon länger plante. Die Hallen waren groß und lichtdurchflutet. In gläsernen Kästen konnte man Ausstellungsstücke bewundern aus Arads Geschichte. Endlich kamen sie in die Abteilung mit den Grundrissen und Bauplänen der berühmtesten Gebäude der Stadt. Darunter auch die alte Stuckvilla, vor der sie eben noch gestanden hatten. Sorin beugte sich darüber und studierte sie eingehend. Lia wurde immer mulmiger zumute, da sie sich in solch öffentlichen Gebäuden nie wohlfühlte.
„Wie lange brauchst du denn noch?“ Besonders beunruhigte es sie, dass sie hier Zeit verschwendeten, die sie eigentlich benötigten, um sich Geld zu beschaffen. Ihr grauste es, wenn sie daran dachte, dass ihre Geschwister und ihre Tochter diesen Abend wieder würden hungern müssen.
„Moment“, murmelte Sorin und machte eine unwirsche Handbewegung. Nach schier endlos langen Minuten drehte er sich um und ging Richtung Ausgang. Lia folgte ihm schweigend. Als sie aus dem Gebäude kamen, das eines der einzigen war, das durch eine Klimaanlage gekühlt wurde, brannte die Sonne heiß auf sie nieder und stach in ihre Augen. Die junge Frau folgte ihrem Bruder bis in eine dunkle Gasse, wo er ihr seinen Plan erläuterte. Sie verstand ihn, zweifelte aber noch immer an seinem Gelingen.
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, meinte dieser nur, fügte dann jedoch hinzu: „Ich will einfach was tun, verstehst du? Ich kann nicht einfach so in den Tag leben und nichts tun. Vielleicht ändert es nichts an unserer Lage und wir müssen so weitermachen wie zuvor, aber womöglich ändert es unser Leben von Grund auf. Ich will nicht so weitermachen, Lia. Nicht bis in alle Ewigkeit.“
„Ich weiß“, flüsterte sie und nahm ihn in den Arm, „ich weiß, Soso, ich weiß.“ Ihr ging es ja genauso. Sie war es leid, jeden Tag nur das eine zu tun und sich nie ihrem Leben gewiss zu sein. Jeden Tag zu bangen, ob man am nächsten noch lebte, und vor allem, ob die Menschen, die man liebte, noch lebten.
Gestern Abend war sie es, die seinen Trost gebraucht hatte, nun brauchte er ihren. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie aufeinander angewiesen waren. Lia würde für ihre Geschwister und ihre Tochter durchs Feuer gehen und deshalb würde sie auch dieses Mal an seiner Seite bleiben. Und genau das sagte sie ihm. Sorin lächelte sie dankbar an und löste sich wieder von ihr.
„Lass uns noch was zu essen besorgen, damit El und Flori heute Abend nicht ohne schlafen müssen.“

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