Gezwungen - 13. Kapitel

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Mehrere Tage blieben sie zuhause. Durch den Verkauf des Schmucks hatten sie nun genug Geld, um sich das erlauben zu können. Manchmal überkam Lia ein schlechtes Gewissen, weil sie das Geld gleich wieder ausgeben mussten, und es nicht nutzten, um regelmäßig Essen kaufen zu können. Aber Sorin gab ihr zu verstehen, dass sie sich keine Sorgen machen sollte. Auch fragte sie sich oft, ob sie so etwas noch einmal tun würden. Wenn sie an die Nacht zurückdachte, hatte sie kein schlechtes Gewissen, aber sie war sich nicht sicher, ob das nicht daran lag, dass sie dadurch Cosmin kennengelernt hatte. Stellte sie sich nun vor, sie würde in ein weiteres Haus einbrechen, spürte sie Angst und Ablehnung in sich. Es hatte sich wirklich viel verändert. Für das Geldproblem mit ihrer Arbeit in der Bar hatten sie ebenfalls noch keine Lösung gefunden. Soso beharrte auf seiner Meinung, dass sie einen Weg finden würden. Aber Lia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welcher das sein sollte. So verquer das klingen mochte, sie befand die Arbeit in der Bar wenigstens als ehrlich. Stehlen war unehrlich. Seinen Körper zu verkaufen war zwar nicht anständig, aber wenigstens ehrlich. Nach anderer Arbeit konnte man in Arad lange suchen. Es gab zwei Gruppen in ihrer Heimatstadt: die, die in den Adel oder zumindest in die wohlhabenden Generationen geboren wurden, und die, die in die Unterschicht geboren wurden. Vom Adel in die Unterschicht konnte jeder gelangen, anders herum fast niemand. In Arads Straßen gab es nicht wenige, die dieses Schicksal hatten, die um ihr Leben kämpfen mussten und die stahlen. Insofern hatten es Lia und ihre Familie nicht so schlecht getroffen. Immerhin hatten sie ein Dach überm Kopf. Aber das war Vergleichen auf dem untersten Niveau. Es gab so viele Menschen in den Schatten bei Nacht, jeder alleine mit seinem Leid, jeder alleine mit seinen Sorgen, jeder ein eigenes trauriges Schicksal und eine eigene traurige Zukunft.
Nach wenigen Tagen, ging Sorin wieder in die Stadt. Und er nahm Elisei mit, zu Lias großen Überraschung und Verwunderung.
„Er stellt sich gut an. Außerdem ist er alt genug und doof auch nicht. Mach dir keine Sorgen“, versuchte Sorin, seine Schwester zu beruhigen, als sie ihn darauf ansprach.
„Immer dieses Mach dir keine Sorgen“, erwiderte Lia forsch. „Denkst du, ich wäre neuerdings aus Glas, nur weil ich-“ verliebt bin? Das hätte sie sagen müssen, aber sie konnte es nicht aussprechen. „Ich kann doch nicht zuhause bleiben und nebenbei meinen kleinen Bruder vorschicken. Ich müsste mit dir in die Stadt gehen und ich müsste mit dir stehlen gehen, aber du erlaubst es mir ja nicht! Wieso? Vertraust du mir nicht mehr?“
„Sei nicht albern, natürlich vertraue ich dir.“ Sorin machte eine unwirsche Handbewegung.
„Was ist es dann? Wieso behandelst du mich wie ein kleines Kind? Ich soll zuhause bleiben, sagst du. Wieso versuchst du mich zu schonen?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn an, aber er wich ihrem Blick aus. „Antworte mir“, forderte sie.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht genau. Ich hab das Gefühl... dich nicht mehr so genau zu kennen wie früher. Ich hatte vergessen, dass du...“
„Dass ich was?“
„Wir waren ein Team, schon seit ich denken konnte, und darüber habe ich vergessen, dass du...“ Er schloss die Augen. „Dass du meine Schwester bist.“
„Was soll das denn heißen?“, erwiderte Lia. „Meinst du, nur weil ich... Ist es das? Glaubst du allen Ernstes, ich wäre ganz plötzlich nicht mehr in der Lage, andere Leute zu bestehlen, weil ich ein Mädchen bin?“
Sein Schweigen war ihr Antwort genug. Fassungslos lachte sie auf. „Ich glaub das nicht. Ich glaub das einfach nicht. Dann sag mir bitte noch eins. Seit wann ist aus meinem Bruder so ein Idiot geworden?“ Damit drehte sie sich um und ging. Die Antwort wollte sie gar nicht mehr hören. Tränen schossen ihr in die Augen, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht nur Cosmin verloren hatte, sondern auch Sorin, ihren Bruder. Wie hatte das nur passieren können?
Lia wanderte durch die Gassen und Straßen, ohne zu wissen, wohin. Die eng beieinander stehenden Häuser und die Schatten spendeten ihr Trost. Das hier war schon immer ihr Zuhause gewesen, und wenigstens das würde sich wohl nicht mehr ändern.
Unerwartet traf sie plötzlich auf jemanden, den sie kannte. Er war nicht wirklich ihr Freund, vielmehr konnte man ihn als ihren Arbeitskollegen bezeichnen. Aber er war immer für sie gewesen und auch immer da. Licas saß auf dem Asphalt und lehnte sich an eine Hauswand.
„Hallo“, begrüßte sie ihn und er lächelte sogar leicht. „Kann ich mich zu dir setzen?“
Licas rutschte ein Stück zur Seite zur Antwort, auch wenn an der Mauer noch genug Platz gewesen wäre. Er hätte sich wohl gefragt, wieso sie die letzten Tage nicht zur Arbeit gekommen war, wenn er nicht das Wundern und Fragen schon vor Jahren aufgegeben hätte. Normalerweise erhielt er keine Antworten.
„Weißt du eigentlich noch, wie man hofft?“, fragte Lia, als sie saß, und wandte sich ihm zu. Er schüttelte jedoch den Kopf. „Sei froh. Zu hoffen und dann enttäuscht zu werden tut nämlich verdammt weh.“
Da tat Licas plötzlich etwas, das Lia noch weniger erwartet hätte, als ihn hier zu treffen: Er legte seine Hand auf ihre Hand und drückte sie leicht. Er beobachtete schon seit Ewigkeiten Menschen und wusste, was er tun musste.
„Vielleicht sollte ich es so machen wie du“, meinte Lia dann. „Das Schicksal einfach akzeptieren.“
Als sie jedoch zu ihm blickte, sah sie, wie er den Kopf schüttelte. Er rutschte ein Stück von ihr ab und begann etwas in den Straßenstaub zu kritzeln. Schreiben konnte er genauso wenig wie Lia lesen, also malte er etwas, das sie schnell als ein Messer identifizieren konnte.
„Ich soll jemanden umbringen?“, fragte sie entsetzt, doch wieder schüttelte Licas den Kopf. Er malte weiter: noch ein Messer, das das erste überkreuzte. „Ich soll... kämpfen?“
Nun nickte er, hockte sich vor sie und legte ihre Hand auf ihre Brust, dort, wo ihr Herz schlug. Dann lächelte er und drückte ihr Knie, bevor er aufstand und davon ging. Lia blickte ihm nach, nicht sicher, was sie davon halten sollte. Er kannte ihre Situation nicht, vielleicht konnte sie nicht zu viel auf seine Meinung geben. Schließlich konnte er es gar nicht richtig beurteilen. Mit einem Ruck wischte sie seine Zeichnung weg, aber sie blieb weiterhin hinter ihrem inneren Auge. Und sie fürchtete, dass sie sie auch nicht so schnell vergessen würde.

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