Gezwungen - 12. Kapitel

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Es gibt die unterschiedlichsten Menschen auf der Welt, aber es gibt Dinge, die verbinden sie alle. Wünsche und Träume zum Beispiel. Oder Liebe. Und eben auch der Schmerz des Verlustes. Man kann nicht leben, ohne zu verlieren und mindestens einmal zu erfahren, was Verlust bedeutet. Manchmal ist es der Tod eines geliebten Menschen, oder Glaube oder Hoffnung, die man verliert. Aber eins haben sie alle gemeinsam: Es tut weh. Und wenn es sowohl die Hoffnung und der Glaube, als auch der Verlust eines geliebten Menschen ist, ist es fast unerträglich.
Als Liana in der alten Fabrik ankam, blickten ihr drei sorgenvolle Gesichter entgegen.
„Wo warst du denn so lange? Oana schreit sich seit Stunden die Seele aus dem Leib und du kommst einfach nicht!“, schimpfte Sorin, aber aus seinen Augen sprach nichts als Erleichterung. Im nächsten Moment schlossen sich seine starken Arme um sie. Lia hatte sich fest vorgenommen, ihrer Familie keine weiteren Sorgen zu bereiten, aber bei dieser Umarmung konnte sie nicht anders, als zu weinen anzufangen.
„Es tut mir leid, ich hätte früher kommen sollen“, schluchzte sie.
Sorin, der erschrocken über ihre Reaktion schien, hielt sie eine Armlänge von sich und musterte sie. Dann sah er die Prellungen und Schwellungen, und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich. „Wer war das?“, fragte er und aus seiner Stimme sprach feurige Wut.
Lia schüttelte den Kopf. „Einer aus der Bar“, sagte sie leise, damit Florica und Elisei nichts mitbekamen. „Aber es ist alles in Ordnung.“ Sie wusste, er würde sich nur aufregen, aber eigentlich war sie sich sicher, dass er es sowieso tun würde. Und sie hatte recht.
„Nein, nichts ist okay. Du gehst da nicht mehr hin.“
„Aber ich muss!“, widersprach sie. Ihre Tränen halfen ihr nicht gerade dabei, überzeugend und vor allem überzeugt zu wirken, aber sie konnte einfach nicht anders. In diesem Moment entlud sich alles. Aber vor allem weinte sie um Cosmin und das war ihr sehr wohl bewusst.
„Musst du nicht, wir finden eine Lösung.“ Sorin ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, und überhaupt war Lia zu erschöpft, um sich auch noch mit ihm zu streiten.
„Oana hat Hunger“, merkte Lia an, und ihre Stimme klang schon wieder etwas fester. Sorin seufzte, ließ sie aber los. Sie wussten beide, dass diese Diskussion noch nicht zu Ende geführt war. Nachdem sie ihre Tochter gestillt hatte, lehnte sie sich erschöpft an die Wand. Sie hatte zwar geschlafen, aber ihre Gefühle und ihre Tränen hatten sie Kraft gekostet.
„Erzählst du uns eine Geschichte?“, fragte Florica und setzte sich neben sie.
Lia seufzte, aber sie befand, dass ihre Geschwister nicht unter ihren Problemen leiden sollten.
„Es war einmal ein Kaiser, der von seinem Fischer verlangte, für seine schwangere Frau grüne Fische zu fangen. Doch so oft und so lange er auch fischte, es gingen keine grünen Fische ins Netz. Da versprach er dem Teufel das, was in seinem Haus sei, und von dem er nichts wisse. Dafür sollte der Teufel ihm helfen, grüne Fische zu fangen. Und so war es. Doch als er...“ Sie unterbrach sich, schluckte und fuhr dann fort. „...nach Hause kam und es seiner Frau erzählte, brach sie in Tränen aus und schluchzte, er hätte dem Teufel sein ungeborenes Kind...“ Es war nicht lange her, dass sie das Märchen zum ersten Mal gehört hatte. „Er hätte dem Teufel... Es tut mir leid.“ Nun konnte Lia die Tränen nicht mehr aufhalten. Unwillkürlich hatte sie das Märchen erzählen wollen, das ihr Cosmin vorgelesen hatte. Der Schmerz schüttelte sie und sie ließ ihren Kopf auf die Knie fallen.
„Kommt. Wollt ihr vielleicht was spielen?“, hörte sie Sorin sagen. „Eure Schwester braucht nur etwas Zeit. Ihr geht es gut.“
Kleine Kinder konnte man damit überzeugen, aber sie hörte es ihm an, dass er nicht daran glaubte. So lange schon hatte sich Lia nach Veränderung gesehnt, sich gewünscht, dass endlich etwas passierte. Jetzt war zu viel passiert. Zu schnell. Dabei könnte alles ganz anders sein, oder?
Lia stand auf, verließ die alte Fabrikhalle und setzte sich irgendwo auf dem Feld, das mit anderen die Fabrik von der Stadt trennte, auf die Erde. Die Sonne schien warm, aber ihr war dennoch kalt. Wenigstens weinte sie nun nicht mehr.
Es dauerte nicht lange, bis Sorin sich neben sie setzte. Sie schwiegen einige Minuten. Liana würde nicht den Anfang machen. Sie konnte sich denken, was nun kommen würde. Die Sonne war schon deutlich weitergewandert, als er sie fragte.
„Was ist los, Lia?“
Sie schwieg.
„Woher kanntest du das Märchen?“
Wieder antwortete sie nicht. Lia war sich nicht sicher, ob sie es ihm erzählen wollte. Genauso wenig konnte sie ihm in die Augen sehen, auch wenn sie seine Blicke deutlich spürte.
„Es ist wegen ihm, hab ich recht?“
Sie ließ den Kopf hängen und etwas aus einem Schluchzen und einem Lachen bahnte sich den Weg durch ihre Kehle, von dem sie nicht mal wusste, wo es herkam.
„Was hat er getan?“
„Er hat gar nichts getan.“ Sie zog die Knie an die Brust, schlang ihre Arme darum und legte ihre Stirn darauf.
„Das kann nicht sein“, beharrte Sorin. „Lia, du musst mit mir sprechen. Wir sind deine Familie. Das solltest du nicht vergessen. Du kannst mir vertrauen. Hat er dich geschlagen?“
„Nein!“ Ihr Kopf schoss nach oben.
„Dann, bitte, sag mir, was passiert ist“, flehte Sorin.
Lia blinzelte gegen die Sonne. „Er hat mich geküsst.“
Darauf erwiderte ihr Bruder erst mal nichts.
„Nachdem ich die Bar endlich verlassen konnte, bin ich zu ihm gegangen. Er hat sich um mich gekümmert, mir ein Bad gemacht, meine Haare gewaschen, mir ein Bett zur Verfügung gestellt, mir Frühstück gemacht, mir ein Märchen vorgelesen und mich geküsst.“ Obwohl ihr erneut zum heulen zumute war, riss sie sich zusammen, sodass sie schon fast kühl klang. Und verbittert. „Aber ich hab ihm gesagt, dass das nichts werden würde, weil wir zu verschieden sind.“
„Lia, du weißt, dass ich ihm misstraue“, begann Sorin schließlich. „Aber ich kenne ihn ja nicht. Und wenn du meinst, dass er okay ist, und das funktionieren könnte, dann...“
„Nein, ich seh das so wie du“, beteuerte sie und stand auf. „Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“ Wenn man sie nun betrachtete, konnte man ihr fast glauben, aber Sorin kannte sie besser. Es war nicht alles in Ordnung, und das würde sich auch vorerst nicht ändern. Aber er hatte bereits einige Jahre mit ihrem Dickkopf zu kämpfen, sodass er wusste, dass er sie so nicht würde überzeugen können. Alles, was möglich war, war, ihr die größtmögliche Freiheit in ihrer Entscheidungsfindung zu geben, und das, so hoffte er, hatte er nun getan.

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