Gezwungen - 9. Kapitel

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Sie nahmen alle mit. Florica und Elisei freuten sich, endlich mal mit auf den Markt gehen zu dürfen. Für Lia und Sorin war es schwer vorstellbar, die Straßen von Arad nicht alle zu kennen, wie die eigene Westentasche, und nicht so gut wie jeden Tag durch sie hindurch zu gehen. Das gelbe, staubige Pflaster zu sehen und die teilweise heruntergekommenen, von der Sonne verblichenen Häuser. Lia trug ihre Tochter auf dem Arm und ihre Schwester hielt sie an der Hand. In diesem Straßendurcheinander konnte es leicht passieren, dass der ein oder andere verloren ging. Sorin achtete besonders auf Elisei, während er Lebensmittel einsteckte - und bezahlte. Es war eigentlich nicht notwendig, aber sowohl Lia als auch Sorin wollten einmal im Leben eine ganz normale Familie sein.

Sie kauften Brot und Käse und Tomaten. Außerdem Karotten und Paprika. Für ihre Geschwister besorgten sie dazu ein Bilderbuch mit sehr wenig Text. Oana würde es erst erfreuen, wenn sie älter würde, aber auch Lia und Sorin würde es die Langeweile vertreiben, wenn sie welche haben würden. Es war neben dem Fussball, der schon bessere Tage gesehen hatte, der einzige Luxusartikel, den sie besaßen. Sie würden darauf aufpassen wie auf ihren Augapfel.
Den ganzen Nachmittag nahmen sie sich Zeit, um zusammen zu spielen und herumzualbern. Erst, als Flori, El und Oana friedlich schliefen, schickte Lia sich an, sich auf den Weg zu machen.
„Ich dachte, du musst heute nicht arbeiten?“, fragte Sorin sie leise, als sie ihren Pullover überzog.
„Ich gehe auch nicht arbeiten“, erwiderte sie und zählte von dem erworbenen Geld fünfhundert Lei ab.
„Wohin dann? Was willst du mit dem Geld? Bitte sag es mir, Lia. Seit wann haben wir Geheimnisse?“
Lia zuckte zusammen. Solche Anschuldigungen hasste sie. „Ich will zu Cosmin und ihm das Geld zurückgeben“, gab sie schließlich zu.
„Wer ist das?“, fragte er misstrauisch.
„Der, der auf dem Markt für mich bezahlt hat. Und der aus der Villa.“
„Und woher kennst du seinen Namen?“
Lia seufzte. Nun musste sie wohl alles erzählen. „Er weiß auch, dass ich in Tomas Bar arbeite. Er war einmal da.“
Sofort wandelte sich Sorins Gesichtsausdruck in Wut. „Er benutzt dich auch noch?“
„Sht“, Lia bedeutete ihm, leiser zu sein. „Nein, er wollte sich unterhalten und hat mir seinen Namen gesagt. Aber bevor du jetzt ausflippst. Ich habe ihm nichts über euch gesagt. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald zurück. Ich will es einfach hinter mir haben, okay?“
Widerwillig nickte er. „Aber vergiss nicht. Er kommt aus reichen Verhältnissen und ist ein verwöhntes Tier.“
„Keine Sorge, das vergesse ich schon nicht.“ Damit schnappte sie sich das Geld und brach auf. Es war eine Nacht wie jede andere, aber Lias Herz klopfte dennoch ungewöhnlich schnell. Sie hatte keine Angst, dass etwas passieren könnte. Es war eher Aufregung. Vielleicht, aber das wollte sie sich natürlich nicht eingestehen, war es auch Vorfreude. Sie nahm denselben Weg, den sie auch das letzte Mal genommen hatte, dieses Mal aber würde sie nicht das Schloss aufbrechen, um in das Innere der Villa zu gelangen. Mit einer kurzen, geübten Bewegung streifte sie ihre Kapuze ab und klingelte. Es öffnete keiner. Sie wartete, bevor sie noch einmal den Klingelknopf drückte. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Cosmin schien sehr überrascht sie zu sehen, was nicht zuletzt dadurch verstärkt wurde, dass er bis auf eine Jogginghose nicht bekleidet war. Wahrscheinlich, aber das wurde Lia erst jetzt bewusst, hatte er so spät abends nicht mehr mit Besuch gerechnet. Sie schluckte, als ihr Blick über seinen Oberkörper wanderte. Sorin zog beim Fußball spielen oft den Pullover aus, aber bei ihm hatte es sich nie so beklemmend angefühlt. Aber auch sonst war er nicht der erste Fremde. Im Gegenteil, sie hatte schon Männer gesehen, die weniger anhatten.
„Hallo, Lia“, begrüßte er sie und riss sie so aus ihren Gedanken. Ihr Blick schoss wieder nach oben und fixierten seine Augen.
„Hallo“, sagte sie und musste sich räuspern, weil ihre Stimme belegt war.
„Ich hab ehrlich gesagt nicht mit dir gerechnet. Willst du reinkommen?“
Wider aller Vernunft nickte sie. Ihr Vorhaben, nur kurz das Geld abzugeben und dann wieder zurück zu ihrer Familie zu gehen, war vergessen.
Cosmin machte einen Schritt zur Seite und ließ sie vorbei. „In die Bibliothek. Den Weg kennst du ja.“ Er schmunzelte.
Nun, da sie ohne Druck oder schlechtes Gewissen durch die Flure der Villa gehen konnte, nahm sie sie ganz anders wahr. Sie waren nun nicht mehr so protzig und gierig, prunkvoll, das schon, aber sie waren auch einzigartig und wunderschön mit ihren vielen vergoldeten Verzierungen und Spiegeln, alten Kommoden und Tischen. In ihrem Rücken spürte sie die ganze Zeit Cosmins Augen, die sie neugierig musterten. Schließlich kam sie in dem ihr sehr vertrauten Salon an. Es hatte sich nichts verändert, sogar das große Bild vom Regenwald hing noch an der Wand. Mit einem Finger fuhr sie über die Inschrift. Diese Buchstaben bedeuteten also Regenwald. Sie war fasziniert und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Leben, lesen zu können.
„Kommst du?“, fragte Cosmin sie plötzlich leise. Lia hatte gar nicht bemerkt, dass sie das Bild angestarrt hatte und noch weniger wusste sie, wie lange.
„Ja.“ Sie drehte sich um und folgte ihm in die Bibliothek. Sie hatte zwar bei ihrem ersten Besuch einen Einblick bekommen, aber die hohen Regale und die zahlreichen Bücher, die sie füllten, verschlugen ihr schlicht die Sprache. Es mussten an die tausend oder mehr Bände sein, die sich Rücken an Rücken aneinander schmiegten. In der Mitte des Raumes stand ein großes Sofa, das im Vergleich jedoch winzig wirkte, und ein kleiner Beistelltisch, auf dem eine Schale mit Keksen und ein Glas Wasser standen. Auf der linken Seit befand sich die gläserne Tür, die auf einen Balkon führte. Sie war weit geöffnet, aber die Luft draußen war noch viel zu warm, um Kühle hineinzulassen.
„Du darfst dich setzen, wenn du möchtest“, bot ihr Cosmin an, aber Lia besann sich nun doch. Sie griff in ihre Tasche und holte die Scheine heraus.
„Hier, das ist das Geld, das du zurückbekommst“, erklärte sie, als sie sie ihm reichte.
„Ich bekomme kein Geld von dir“, meinte er verblüfft.
„Doch“, beteuerte sie, „damals, als du auf dem Markt die Frau bezahlt hast, die ich bestehlen wollte. Du musstest ihr fünfhundert Lei geben und die zahle ich hiermit zurück.“ Da Cosmin nicht den Eindruck machte, es anzunehmen, legte sie das Geld auf das Tischchen vor dem Sofa und verschränkte anschließend die Arme vor der Brust.
Er war nicht überzeugt, aber er versuchte nicht mehr, sie zu überzeugen. „Woher hast du es überhaupt?“, fragte er stattdessen.
„Wir... haben den Schmuck verkauft“, gestand sie nach kurzem Zögern, ob sie es ihm erzählen sollte.
Er kommentierte das mit einem Grinsen und auch Lias Mundwinkel zuckten, weshalb sie sich schnell wegdrehte. Sie ging zur Balkontür und trat hinaus. Es war schon fast dunkel, aber der Himmel leuchtete dennoch rot wegen der vielen Lichter der Stadt. Lia konnte sich nicht vorstellen, jemals bei einem solch hellen Himmel einzuschlafen. Sicher von der leeren Fabrikhalle aus sah man auch den erleuchteten Himmel über den Häusern, aber man konnte eben in klaren Nächten auch die Sterne sehen.
Sie spürte, wie Cosmin hinter ihr auf den Balkon hinaustrat. Kurz darauf lehnte er sich neben sie an die Brüstung.
„Ich weiß nicht, warum ich das Geld nicht einfach behalte“, sagte sie irgendwann. „Seit ich mich erinnern kann ist mein Leben so, wie es jetzt ist. Wahrscheinlich wird sich nie etwas ändern. Aber aus irgendeinem Grund will ich so eigenständig wie möglich sein. Ich will keine Schulden, die mich mit anderen Leuten verbinden.“ Unter dem Balkon erstreckte sich ein Garten, der mit Rasen und Bäumen bepflanzt war. Die Sträucher standen so dicht, dass man die Straßen nicht sehen konnte. Sie dachte einen Moment nach, doch plötzlich war sie wütend. „Ach, wieso erzähle ich dir das überhaupt? Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.“ Lia stieß sich von der Brüstung ab und setzte sich an die Wand auf den staubigen Boden. Er konnte es gar nicht verstehen, weil niemand sie verstehen konnte. Es war nun mal ihr Leben, das so von Dunkelheit verzehrt war. Selbst wenn jemand einen Teil von ihrem Sein verstehen würde, so könnte er doch niemals den großen ganzen Konflikt verstehen, der sie in ihre Rolle zwang, der ihr keinen Freiraum gab und vor allem keine Freiheit. Sie wünschte sich nur ein Leben, das nicht jeden Tag mit Selbsthass und Zweifeln durchwob. Denn genau das war ihr Problem: Sie hasste es, Tag für Tag auf die Straße gehen zu müssen, um anderer Leute Geld zu stehlen. Und sie hasste es, nahezu jeden Abend die fleischige Visage Tomas sehen zu müssen, der sich lustig über ihr Schicksal machte. Und sie hasste es, ihren Körper hinzugeben, und ihre Familie dennoch nicht sättigen zu können. Und sie hasste es, jede Nacht auf einer dünnen Decke einzuschlafen. Sie hasste es, ihre Geschwister und ihre Tochter jeden Tag allein lassen zu müssen und die halbe Nacht ebenfalls. Sie hasste diese Rolle, was zwangsläufig bedeutete, dass sie sich selbst hasste, denn längst hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben. Wieso rebellierte sie noch? Sie sollte sich die fünfhundert Lei nehmen, verschwinden und nie wieder herkommen.
„Du musst dein Handeln nicht rechtfertigen.“ Cosmin ließ sich neben ihr nieder. „Mein Vater hat sich riesig darüber aufgeregt, als er gesehen hat, dass ihr bei uns eingebrochen seid. Ich hab ihm nicht erzählt, dass ihr es wart, und das verstehe ich auch nicht. Ich wüsste auch nicht, wie ich es rechtfertigen sollte und es ist auch falsch. Ich müsste zur Polizei gehen und euch melden. Euer Handeln und überhaupt euer Leben und eure Existenz ist illegal. Ich müsste euch ausliefern und eine Menge Geld kassieren, dafür, dass ich euch verraten habe und aus dem Weg geschafft habe, aber ich tue es nicht. Glaub mir, ich bin der Letzte, vor dem du dich rechtfertigen musst.“ Er wedelte mit seiner Hand in der Luft herum. „Die Nacht ist total warm, oder? Willst du nicht deinen Pullover ausziehen?“
„Nein“, sagte Lia. Sie musste sich nicht rechtfertigen, das hatte er selbst gesagt, und vor allem wollte sie es nicht. Niemandem wollte sie erzählen, dass sie den Pullover nie auszog, weil sie allein die Aktivität des Ausziehens daran erinnerte, was sie Tag für Tag von sich gab. Es war nicht nur ihre Kleidung, es war auch ihre Selbstachtung und ihr Charakter. Jeden Tag, oder besser gesagt jede Nacht, gab sie einen Teil ihrer Wertvostellungen irgendwelchen Fremden, denen es nicht einmal etwas bedeutete. „Ich sollte gehen“, entschied sie schließlich. „Mein Bruder wartet auf mich.“
Als sie aufstand, griff er nach ihrer Hand. Sie zuckte zusammen, als sie seine Berührung spürte. Ihr Herz flatterte. Sofort ließ er sie wieder los. Sie sah ihn an. Cosmin blickte zu ihr auf und sagte nichts. Was hatte ihm die Sprache verschlagen? Nicht einmal eine Verabschiedung kam über seine Lippen, als sie über die Balkonbrüstung stieg und über Kletterpflanzen und Mauervorsprünge in den Garten hinunterkletterte. Über ihre Lippen allerdings auch nicht. Es war weder ein Abschied, noch gab es Hoffnung, dass sie sich wiedersehen würden. Es war nur ein Gefühl. Das Gefühl, dass da etwas zwischen ihnen war, das keiner von ihnen mit Händen greifen und noch viel weniger erklären konnte. In ihre Träume verfolgte sie sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung.

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