Gezwungen - 28. Kapitel

140 17 0
                                    

Das erste, worauf ihr Blick fiel, waren ihre Geschwister. Nein, nur ihr Bruder. Er stand da, mitten im Raum, aufrecht, selbstsicher. Das Licht tauchte ihn in einen seltsam entfernten Schimmer. Als gehörte er nicht in dieses Zimmer. Als wäre er jemand anderes geworden, ihr vollkommen fremd. Elisei hockte in der Ecke, in dem Versuch, Florica und Oana zu schützen und zu beruhigen. Er hatte offenbar nun die Rolle Sorins übernommen. Sie fragte sich, was sie alles verpasst hatte. Als Lia ihre Familie nun von Angesicht zu Angesicht sah, wurde ihr Herz so weich, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie wendete ihren Blick ab und trat hoch erhobenen Hauptes ihrem Gegner entgegen.
„Lassen Sie sie gehen!", forderte sie mit sicherer Stimme. Ihr Ziel gab ihr Kraft. Und der Anblick ihrer Familie. Dennoch wünschte sie sich in dem Moment einen Plan.
Der Mann war außer sich vor Wut. „Wann kapiert ihr's endlich!", schrie er und stampfte auf wie ein trotziges Kind. Sein Verhalten mochte ganz und gar nicht zu seinem groben Aussehen passen. Sein Kinn war kantig und mit kurzen Stoppeln bewachsen, seine buschigen Augenbrauen wölbten sich auf der in Falten gelegten Stirn. Seine Arme waren tätowiert. „Ich knall euch alle ab, wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst! Das sind alles meine Kinder! Raus hier!"
„Niemals." Um einen Kontrast zu schaffen, sprach Lia mit ruhiger Stimme, ließ sich nicht beirren trotz der Drohung. Trotz der Angst. Kalter Schweiß brach ihr aus.
Der Mann zielte und schoss schneller als sie schauen konnte, geschweige denn reagieren. Cosmin war zum Glück sofort bei ihr. Er riss sie mit sich zu Boden. Die Kugel schlug hinter ihnen in die Wand ein. Lia blieb keine Zeit, um zu verschnaufen. So schnell sie konnte, sprang sie wieder auf die Beine. Nun reagierte auch Sorin. Lias Ohren waren wie mit Watte verstopft. Wenn sie hier heil rauskam, hoffte sie, noch etwas hören zu können. Ihr älterer Bruder ging nun auf den Fremden los, trat gegen seinen Arm, sodass dieser die Waffe fallen ließ. Lia rannte zu ihren Geschwistern, nahm ihre Tochter in den Arm, die sie nur verdutzt anstarrte, und flüsterte irgendwelche Worte, die keinen Sinn ergeben zu wollen schienen. Ihr Blick wanderte unruhig über ihre Gesichter. Sie konnte es kaum fassen, dass das alles echt war.
„Ihr müsst von hier verschwinden", raunte sie immer wieder. „Los, lauft auf die Straße und versteckt euch dort, bis wir kommen." Sie war dankbar dafür, dass Elisei das Ruder in die Hand nahm, und seiner Schwester und seine Nichte nach draußen führte, vorbei an den miteinander ringenden Männern. Cosmin war mittlerweile wieder auf den Beinen und hob die Fäuste
"Soso!", rief Lia. So lange hatte sie diesen Namen nicht mehr gerufen.
Cosmin warf sich auf die Kämpfenden und versuchte, ihren Bruder bestmöglich zu unterstützen. Sorin verpasste dem Mann einen kräftigen Schlag gegen den Kopf, der ihn ins Delirium beförderte. Cosmin streckte die Hand nach ihr aus und gemeinsam folgten sie Sorin aus der Tür, als ein letzter Schuss durch das Haus knallte. Niemand hatte gewusst, dass der Mann noch so weit bei Bewusstsein gewesen war, dass er schießen konnte. Es hatte auch niemand gewusst, wo er noch eine weitere Waffe hatte herzaubern können. Als Lia sich umwandte, lag er da, die Hand an der Waffe, der Arm ausgestreckt, am Boden, mit einem hasserfüllten Blick, der ihnen galt und den sie nicht vergessen würde.
Sie hetzten die Treppe hinunter, durch die verlassenen Flure, nach draußen in die Nacht. Lia atmete erleichtert tief durch, als sie plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrem Rücken spürte.
"Cosmin", keuchte sie. Die Dunkelheit verschwamm vor ihren Augen. Der Atem schien ihre Lungen nicht mehr zu erreichen. Sie musste stehen bleiben. Ihre Hand wanderte zu ihrem Rücken, etwas Feuchtes benetzte ihre Finger.
"Lia", Cosmin musterte sie besorgt. Er nahm ihre Hand, warf einen Blick darauf. Dann schaute er ihr tief in die Augen, hellwach. "Nein."
Liana verstand nicht, was das bedeutete. Sie bekam zu wenig Luft, konnte nichts mehr riechen. Ihre Beine drohten nachzugeben, aber Cosmin ließ es nicht zu. Mit einem beunruhigten Blick zu den erleuchteten Fenstern hinauf legte er einen Arm um sie und stützte sie, sie weiterdrängend, in den schützenden Schatten der Häuser, wo sie am Ende ihrer Kräfte zu Boden sank. Cosmin strich ihr besorgt eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Was ist los?" Es war Sorins Stimme, die ihr so bekannt war und die sie daran erinnerte, was sie geschafft hatten. Ihrer Familie ging es gut. Sie waren alle beisammen und frei. Es war Sorins Stimme, die ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
"Sorin", murmelte sie, "es tut mir so-... leid. Ich habe euch nirgends gefunden." Nachdem sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie sehen, wie er die Augen zu Schlitzen verengte. Lia weinte. Ob vor Glück oder Trauer, wusste sie nicht. Sie spürte, dass sie sich verabschieden musste, gerade, als sie ihre Geschwister nicht lange wieder hatte.
"Du bist meine Mutter?" Oana drängte sich vor Sorin. Auf den ersten Blick sah Lia, dass sie ihr Temperament hatte, genauso wie ihr Haar.
"Oana", raunte sie, "du bist so groß geworden. Ich hab so viel verpasst." Auch deshalb weinte sie. "Und Elisei, Florica. Ihr seid so erwachsen geworden. Es tut mir leid, dass ich nicht da war für euch."
"Aber du bist es ja jetzt", lächelte Oana. Sie war so jung und unbeschadet. So fröhlich.
Lia lächelte traurig, ihr Blick verschwamm, dann fokussierte er sich auf Cosmin, der sie immer noch aufmerksam beobachtete. Seine Hand lag nach wie vor an ihrer Schläfe, wärmte sie, fing ihre Tränen auf.
"Pass bitte auf sie alle auf. Ich möchte-" Sie hustete, hustete Blut. Der eiserne Geschmack heftete sich an ihre Zunge. "Ich möchte, dass sie ein so gutes Leben haben, wie ich es zuletzt hatte."
"Natürlich, aber du kannst jetzt nicht gehen, bitte Lia, ich..." Nun weinte auch er. Er musste es ebenfalls eingesehen haben. Lias Herzschlag verlangsamte sich.
"Du wurdest angeschossen?" Sorin blickte sie geschockt an, doch sie konnte nur nicken. "Aber... du kehrst doch mit uns nach Hause, nicht wahr?" Sein Blick glitt fragend zu Cosmin. Er senkte den Kopf. Verzweiflung brandete in Sorins Augen auf. Er bewegte die Lippen, aber es drang kein Wort hindurch. Lia sah Reue in seinem Blick und im Stillen vergab sie ihm alles, was er bereute. Sie hätte sich gerne von Cosmin küssen lassen. Sie hätte sich auch gerne von Sorin umarmen lassen. Sie hätte liebend gerne von allen Abschied genommen, so wie sie es sich vorstellte und wie sie es in den vielen Filmen gesehen hatte, mit Cosmin auf der Couch sitzend, in der warmen Bibliothek. Aber dazu war die Zeit nicht ausreichend. Nebel schob sich vor ihr Blickfeld und verdunkelte sich. Und dann sah sie nicht mal den Nebel mehr, nicht mal die Dunkelheit. Vielleicht sah sie alles klarer als zuvor. Vielleicht sah sie auch nichts mehr, weil es etwas wie den Himmel nicht gab und ein Leben nach dem Tod und ein Dasein als Geist. Aber das konnten Cosmin, Sorin, Elisei, Florica und Oana nicht wissen, die in dieser Nacht um eine verlorene Freundin, eine verstorbene Schwester und eine zu wenig gekannte Mutter trauerten. Für Lia hätte es keinen Grund gegeben. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Und im letzten Moment hatte es auch für sie keinen Grund mehr zu weinen gegeben, denn ein Lächeln lag auf ihren Lippen.
Sorin hätte ihr gerne gesagt, wie sehr er sie vermisst hatte.

Gezwungen #BestsellerAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt