Gezwungen - 25. Kapitel

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Als Lia ins Auto stieg, schien die Sonne. Als sie wieder ausstieg, war sie von Wolken verdeckt. Selten ging sie in Arad selbst einkaufen. Auch an diesem Tag hatte sie sich eine entfernter liegende Stadt ausgesucht. Cosmin sah es nicht gerne, er meinte, sie hätte noch nicht wirklich mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen, aber sie sah das anders. Sie hatte nicht mal mehr Hoffnungen, sie noch zu finden. Tatsächlich war der einzige Grund, warum sie jedes Mal den weiten Weg auf sich nahm, um in einer anderen Stadt, auf einem anderen Markt einzukaufen, der, dass sie sich schlicht und ergreifend daran gewöhnt hatte und die Verkäufer gerne wiedersah. Lieber noch als die aus Arad, die sie früher bestohlen hatte. Außerdem hatte sie überall etwas gefunden, das sie besonders gerne mochte oder gerne aß.
Lia zog ihren Schal fester um den Hals, nahm ihre Tasche und die Einkaufstüte und schloss das Auto ab. Dann machte sie sich auf den Weg zum Markt. Sie kaufte Karotten und Brot und Äpfel. Dann blieb sie vor einem Stand mit wunderschönen gestrickten Handschuhen und Tischdecken stehen.
„Die sind wunderschön", meinte sie zu der Verkäuferin, die ihr lächelnd dankte. Es war eine Ausländerin, das hörte man am Akzent und sah man an ihrem strohblonden Haar. Lia, vermutete, dass sie aus den westlichen Landen kam.
Plötzlich wurde sie angerempelt. Jemand hinter ihr murmelte eine Entschuldigung und wollte sich schon wieder davon machen, als Lia aber schon herumgewirbelt war. Als ehemalige Taschendiebin besaß sie einen Sensor für so etwas. Blitzschnell griff sie nach dem Arm und hielt den jungen Mann fest, der gerade ihr Portemonnaie hinter seinem Rücken verschwinden lassen wollte. Sie wollte etwas sagen wie „Halt, warte, gib mir mein Geld zurück!" oder „Ich weiß, dass du mich bestehlen wolltest!", aber sie vergaß alles in dem Moment, als sie ihn sah. Das dunkle, staubige Haar, von dem das meiste unter einer Kapuze verborgen war, die durchdringenden Augen. Oft hatte sie den Blick gesehen. Früher.
„Sorin?", fragte sie. Er wandte den Blick ab, als ihr bewusst wurde, dass es nicht Sorin sein konnte. Er wäre viel älter. Ihre Augen wurden noch größer. „Elisei?"
Als er sie wieder ansah, war sein Blick voll Schmerz und Trauer. Und Angst. Er hatte sie erkannt, das wusste sie. Dennoch wandte er sich ab und ging. Sie ließ ihn gehen, war zu gelähmt, um ihn aufzuhalten.
„Entschuldigung? Könnten sie einen Schritt zur Seite gehen. Ich würde mir gerne die Auslage ansehen." Eine weibliche Stimme drang von weit her zu ihr durch. Eine ältere Dame blickte sie freundlich an. Lia blickte zwischen der Stelle, an der El verschwunden war und der Dame hin und her.
„Können sie das kurz halten?" Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie ihr Tasche und Tüte in die Hand und stürzte sich ins Getümmel. Wie früher nutzte sie jeden Millimeter Luft, um vorwärts zu kommen. Dabei sah sie sich um. Wo wäre sie früher hingegangen, um sich mit Sorin zu treffen? Da, eine dunkle Seitengasse. Sie drückte sich an die Wand und spähte vorsichtig um die Ecke. Und tatsächlich, da standen sie. Elisei, eine junge rothaarige Frau, das musste Florica sein, Sorin, der nun einen Bart trug und viel älter wirkte, ein junges Mädchen von vielleicht zehn oder elf Jahren mit dunklen Haaren, und ein Mann, den Lia nicht kannte. Ihr stiegen fast die Tränen in die Augen, als sie ihre Geschwister dort alle stehen sah. Wie sie sich verändert hatten. Der Mann hielt eine Tüte auf und die anderen ließen ihre Beute hineinfallen. Ein eingeübtes Spiel. Plötzlich hob der Mann den Blick und schaute genau in ihre Richtung. Schnell zuckte sie zurück und presste sich an die Wand. Nicht mal zu atmen traute sie sich. Auch wenn er sie nicht gesehen zu haben schien, wagte sie es nicht, noch einmal nachzuschauen. Es kostete sie viel Kraft, ihre Geschwister dort stehen zu wissen und sie nach so langer Zeit nicht umarmen oder gar ansehen zu können.
Lia war nicht doof. Sie konnte eins und eins zusammenzählen. Der Mann, den sie nicht kannte, hatte sie entführt und zwang sie, auf dem Markt zu stehlen. Lia wollte gar nicht wissen, was sie ihrer Familie antaten, wenn sie nicht ihrem Willen folgten. Unwillkürlich musste sie an Licas denken, dem man die Zunge herausgeschnitten hatte. Angst griff nach ihrem Herz.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ich hab hier ihre Taschen." Plötzlich stand wieder die alte Dame vor ihr und hielt ihr die Einkaufstüte hin. Unsicher warf sie einen Blick zurück zum Eingang der dunklen Gasse, als gerade in dem Moment der Unbekannte Mann aus dem Eingang trat. Er beachtete sie zum Glück gar nicht erst. Sie erkannte ihre Tochter sofort, als sie ihm folgte. Beinahe zerriss es ihr das Herz, als sie sie mit gleichgültigem Blick betrachtete, weil sie sie nicht erkannte. Florica blickte unsicher zu Sorin, ob sie ihren Augen trauen konnte. Sie war zu einer wirklich hübschen jungen Frau herangewachsen. Sorins Blick konnte sie nicht deuten. Es war dieses vom Schmerz gezeichnete Gesicht, das sie sich immer wieder vorgestellt hatte, das sie nun ansah, sodass sie sich nicht sicher war, ob sie vielleicht doch nur träumte. Er wusste wohl, wer sie war. Auf der einen Seite war es, als hätten sie sich nicht getrennt. All ihre Gefühle für ihn waren noch da, sie kannten sich, hatten sich immer gekannt. Aber auf der anderen Seite lagen nun Welten zwischen ihnen und Lia war sich nicht sicher, ob sie die jemals würde überbrücken können, um zurück in seine Arme zu kehren. Ihr jüngerer Bruder schließlich wich ihrem Blick aus. Sie war sich sicher, dass er sie hasste. Und sie könnte es verstehen: Sie hatte sie nicht befreit. Stattdessen hatte sie aufgegeben. Hatte ihre Familie aufgegeben.
„Hallo? Geht es Ihnen gut?"
In dem Moment fiel ihr auf, dass sie weinte. Lia konnte sich nicht entscheiden, ob sie todunglücklich oder erleichtert sein sollte. Und beides auf einmal brachte sie nach so vielen Jahren zum Weinen.
Sie nahm ihre Taschen entgegen. „Nein, aber danke."

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