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Ihre nackten Füße stolperten vorwärts, Dornengestrüpp riss an ihrem Pyjama, griff nach ihrer verletzlichen Haut und hinterließ blutrote Striemen. Keuchend fiel sie nach vorne und landete mit Knien und Handflächen auf dem modrigen Waldboden.

Wo zur Hölle war sie? Und wie war sie hierhergelangt? Sie starrte in die Dunkelheit. Riesige Bäume streckten die Äste wie Krallen nach ihr aus. Die Kronen hoben sich kaum vom mondlosen Himmel ab.

Sie sprang zurück auf die Beine, wischte sich den Dreck von den Händen und strich sich die wirren roten Haare aus dem Gesicht. Vollkommen fassungslos blickte sie sich um, die dünne Strickjacke über dem Pyjama zog sie sich dabei enger um den zitternden Körper. Feuchte Waldluft drang mühelos durch die Stoffschichten und die Kälte kroch ihr bis auf die Knochen. Für einen Ausflug war sie in dieser Herbstnacht ausgesprochen unpassend gekleidet. Kein Wunder – hatte sie sich doch vor Sekunden noch im Badezimmer verbarrikadiert, das wütende Hämmern und das Gegröle ihres betrunkenen Vaters an der Tür. Schulter und Schläfe pochten noch immer beißend von seinen Schlägen.

Wie konnte es nur sein, dass sie plötzlich in einem dunklen Wald stand? Sie musste träumen. Oder war alles nur eine Halluzination, mit der ihr Verstand versuchte, sie vor der Wirklichkeit zu schützen?

Melissa atmete tief ein, bemüht ihren hektischen Atem zu besänftigen. Nein, der Schmerz in ihren Knöcheln war echt. Skeptisch legte sie eine Hand auf die Rinde einer Eiche und ertastete mit den Fingerspitzen die Unebenheiten. Kühl und rau fühlte sich der Baum an. Und erschreckend real. Und doch gab es keine vernünftige Erklärung, dass sie sich an diesem Ort befand, ohne auch nur einen Meter zurückgelegt zu haben.

Ein Blick auf ihre rechte Hand ließ sie zusammenzucken. Leer. Das Messer war fort, es musste ihr bei dem Sturz entglitten sein. Ihr Blick huschte panisch über den dunklen Grund, aber es war nichts zu erkennen. Sie hatte sich kaum von der Stelle bewegt, das Messer konnte nicht weit sein. Sie sank wieder auf die Knie und durchwühlte das Laub. Der pilzige Waldduft stieg ihr in die Nase und die Kälte, die der feuchte Boden ausstrahlte, ließ ihre Finger steif werden. Dennoch gab sie nicht auf, fegte Blätter und Zweige beiseite, ignorierte den Schmerz, als die Dornen auch ihre Hände zerkratzten, doch außer einigen Ästchen und modrigen Blättern fand sie nichts – als hätte der Waldboden das Messer tief in sich aufgenommen.

Sie schloss die Augen – es war aussichtslos. Sie drückte sich vom Boden hoch, schlang die Arme fest um ihren bebenden Körper und steckte ihre Hände unter die Achseln.

Noch immer wusste sie nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war, aber ihr war klar, dass sie bis zur Dämmerung erfroren wäre, wenn sie bliebe.

Kurz erwog sie, sich an Ort und Stelle zusammenzukauern und einfach liegen zu bleiben, doch der plötzliche Ortswechsel hatte sie aus dem Konzept gebracht. Hoffentlich blieb sie zumindest von Zecken verschont – wie sie diese Blutsauger hasste. Orientierungslos schaute sie in die Schwärze vor sich.

Melissa hatte sich noch für keine Richtung entschieden, da gellte plötzlich das aggressive Brüllen eines Mannes durch die Dunkelheit und riss die nächtliche Ruhe in Fetzen. Sie wirbelte herum. Kurz glaubte sie, ihr Vater wäre ihr gefolgt, doch es war nicht seine Stimme. Sie versuchte, die Quelle des Lärms auszumachen, und entdeckte einen schwachen Schein zwischen den Baumstämmen, ein orangefarbenes Glimmen, ein gutes Stück von ihr entfernt. Dort mussten Menschen sein. Auch wenn sie bedrohlich wirkten, vielleicht konnte sie von ihnen Hilfe bekommen. Wie gerne hätte sie einfach Abstand gehalten – sie sehnte sich nach Ruhe und Frieden – doch alleine würde sie nicht rechtzeitig aus diesem Wald herausfinden. Es war ihre einzige Chance.

Ihre nackten Füße trafen auf spitze Steinchen und schmerzten bei jedem Schritt, doch sie ignorierte es und erreichte schnell den Lichtschein. Das Glimmen entpuppte sich als ein Lagerfeuer mitten im Wald. Sie hauchte in ihre tauben Hände und rieb sie kräftig gegeneinander. Die Aussicht auf Wärme trieb sie voran.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt