73

478 39 141
                                    

»Du bleibst heute Nacht nicht bei Melissa?«

Nicolas zuckte zusammen. Wenn es jemand fertig brachte, sich an ihn anzuschleichen, dann war es Tara, sie kannte ihn einfach zu gut. Seufzend löste er sich aus dem Schatten der knorrigen Weide. Menschliche Augen hätten ihn bei dem kargen Mondschein, der in dieser Nacht seine bleichen Strahlen durch die Wolken schickte, unmöglich ausmachen können.

»Sie schläft. Sie wird meine Abwesenheit nicht mitbekommen. Die letzten Tage haben ihr alles abverlangt.« Und die letzte Stunde haben sie völlig erschöpft, als er sie mit köstlichen Berührungen von ihren trüben Gedanken ablenkte, bis sie schließlich in seinen Armen einschlief. Aber das würde er kaum mit Tara besprechen. Ein sanftes Lächeln trat bei der Erinnerung auf seine Lippen, unmöglich es zu unterdrücken.

»Ich verstehe.« Prüfend musterte sie ihn. »Und was ist mit dir? Brauchst du keine Erholung? Du hattest ebenso harte Tage.« Tara, ganz die große, besorgte Schwester, als hätte sich nichts geändert.

»Ich brauche nur etwas frische Luft.«

Wie selbstverständlich trat er zu ihr und begleitete sie auf dem sandigen Weg entlang des silbrig flimmernden Sees. Früher hatten sie oft gemeinsam die Nacht durchstreift, zwei dunkle Gestalten, Seite an Seite. Wann hatten sie damit aufgehört?

»Was geht in deinem Kopf vor?«, fragte Tara.

Nicolas schwieg. Wie sollte er ihr erklären, was er von ihr wollte? Zu gerne hätte er die perfekten Worte gefunden, doch die gab es nicht.

»Ich habe lange über die Ereignisse der letzten Tage nachgedacht ...«

Sie traten auf einen hölzernen Steg, der in den See hineinragte.

»Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« Ihr ebenmäßiges Gesicht schaute aufmerksam zu ihm auf, funkelnde Schimmer tanzten in ihren dunklen Haaren, die wohl nur Vampiraugen bei diesem Licht erkennen konnten. Warum fiel ihm ihre Schönheit so selten auf? Vermutlich war das bei Geschwistern einfach so. Wie sehr er seine Schwester liebte, wie viel er ihr zu verdanken hatte.

»Du kannst dich nicht immer um mich Sorgen.«

»Oh doch! Für den Rest der Ewigkeit – und dann noch ein paar Tage.« Tara lachte auf, bevor sie sich am Ende des Stegs setzte, sodass ihre Beine Richtung Wasser baumelten. Nicolas ließ sich neben ihr nieder. Er erblickte ihre Spiegelbilder in der klaren Seeoberfläche, die kaum von einer Welle getrübt wurde.

»Die Ewigkeit ist eine verdammt lange Zeit und Dinge ändern sich. Sie haben sich bereits geändert.«

»Was meinst du?«, fragend blickte Taras Spiegelbild ihn aus dem See an.

»Pass auf die anderen auf, wenn ich es nicht kann.«

»Du weißt, dass ich das tue.«

»Nein, ich meine, setz' mich nicht mehr an deine erste Stelle. Kümmere dich um Adam und Amia, bevor du dich um mich sorgst. Sorge für ihre Sicherheit und bleibe bei ihnen, bevor du auch nur an mich denkst.«

Tara zog die Stirn kraus. »Ich soll ignorieren, wenn du Hilfe brauchst?«

»Ich kann auf mich aufpassen. Und wenn nicht ....«, Nicolas wendete den Blick vom Wasserspiegel direkt zu seiner Schwester. »Du kannst mich nicht immer retten. Die anderen beiden brauchen dich mehr. Bring dich nicht für mich in Gefahr.«

Taras Blick flackerte. »Das kannst du nicht von mir verlangen.«

»Das kann ich ... und das tue ich.«

Ein dunkler Schmerz umspielte ihre Gesichtszüge. »Warum jetzt?«

Er seufzte tief und starrte auf die weite Wasseroberfläche. Kurz war ihm, als sähe er eine dritte, verschwommene Spiegelung zu ihren Füßen, genau zwischen ihren eigenen Abbildern. Abrupt drehte er sich um, doch da war niemand. Er hatte sich getäuscht. Nach den vergangenen Ereignissen fiel es ihm mitunter schwer, sich zu konzentrieren.

Tara ließ sich leicht zur Seite sinken und legte ihren Kopf an seiner Schulter ab. Selten hatte sie ihn zu einer Antwort gedrängt.

»Melissa ist das Beste, das mir passieren konnte ...«, er neigte seinen Kopf, so dass seine Wange ihren Scheitel berührte »... und gleichzeitig mein größter Fehler. Nur für sie habe ich euch alleingelassen – obwohl ich wusste, dass ihr nicht sicher seid. Sie ist meine Schwachstelle, sie macht mich angreifbar und für Amia und Adam bedeutet dies Gefahr. Ich hätte mich nie auf sie einlassen sollen. Doch obwohl ich es besser wusste, habe ich es getan. Ein Fehler, der sich nicht mehr korrigieren lässt.«

»Du hast tatsächlich vor, bei ihr zu bleiben?«

Er schwieg lange, bevor er antwortete. »Ja. – Und ich habe keine Ahnung, wie ich auf euch alle gleichzeitig aufpassen soll.« Er seufzte. »Was wäre gewesen, wenn Kari mich nicht aus diesem Haus geholt hätte? Du bist nicht fortgegangen mit Adam und Amia. Wie lange hätte es gedauert, bis diese Leute den Fokus auf euch gerichtet hätten?« Nicolas rieb sich über die Augen. »Das darf nie wieder passieren. Die beiden brauchen jemanden, der auf sie Acht gibt, falls ich nicht da bin. Jemand, der nicht erst fragt, ob mit mir alles in Ordnung ist.«

Tara hob den Kopf und schüttelte diesen kaum merklich.

»Tu es für Amia ... und für Charlotte.« Fest blickte er ihr in die Augen.

Sie seufzte geschlagen auf. »Okay, ich werde für die beiden dasein, wenn sie mich brauchen.«

»Danke.«


♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt