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Als Melissa nach dem Abendessen wieder in ihre Hütte kam, sah sie ihr Handy auf dem Tisch liegen und konstant blinken. Zögernd nahm sie es in die Hand. Das Gerät teilte ihr mit, dass sie eine neue Nachricht hatte. Von ihrem Vater.

Sie legte es zurück auf den Tisch und ließ sich in den Sessel fallen. Nach den heutigen Ereignissen war sie nicht in der Verfassung, sich auch noch Sorgen um ihren Vater zu machen oder seine Anschuldigungen zu ertragen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie die Nachricht ungelesen löschte? Warum hatte sie ihm überhaupt geschrieben? Was hatte sie sich erhofft? Egal, was es war, es würde keine Erfüllung finden.

Obwohl sie es nur widerwillig zugab, tat ihr der Abstand zu ihrem Vater gut. Und die Ruhe, die sie in ihrer kleinen Hütte fand, verschaffte ihr Trost. Ja, in Gedanken bezeichnete sie es bereits als ihre Hütte. Es wurde immer schwieriger, sich vorzustellen, diesen Ort bald wieder verlassen zu müssen.

Sie machte sich zum Schlafen bereit. Als sie ins Bett krabbelte, warf sie dem Handy einen erneuten Blick zu. Es blinkte noch immer. Natürlich. Das Gerät wusste nichts von ihrer inneren Zerrissenheit. Es war nur ein kaltes Stück Technologie und würde bis in alle Ewigkeit weiterblinken, wenn es niemand dazu brachte, die Nachricht zu öffnen oder zu löschen.

Sie zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, sich von den Gedanken an das blinkende Ungetüm abzulenken. Nach einiger Zeit jedoch setzte sie sich seufzend auf und angelte mit der Hand nach dem Handy.
Minutenlang schwebte ihr Daumen über die Schaltfläche zum Löschen der Nachricht.
Dann drückte sie auf Öffnen und schloss kurz die Augen, bevor sie zu lesen begann.

Meine Lissy! Deine letzte Nachricht hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Es ist lange her, dass du dich nach meinem Befinden erkundigt hast. Ich hatte schon Angst, dich vollständig verloren zu haben. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, es geht mir gut, aber es wäre eine Lüge. Und ich habe eine Menge zum Nachdenken in den letzten Tagen. Es tut mir so leid, was geschehen ist, doch ich kann es nicht ungeschehen machen.

Melissa, so schwer es mir fällt, dir das zu sagen: es war die richtige Entscheidung von dir, zu gehen. Wenn du einen Ort hast, an dem es dir besser geht, bleibe dort. Aber vergiss nicht, dass meine Türen für dich jederzeit offen stehen.

Fassungslos betrachtete sie den blau leuchtenden Bildschirm. Die Nachricht hatte sie am frühen Abend erreicht. Melissa konnte sich nicht erinnern, wann sie ihren Vater das letzte Mal zu dieser Tageszeit nüchtern erlebt hatte.

Nicolas fuhr bedenklich rasant über die kurvigen Straßen. Wenn er mit menschlichen Reaktionsfähigkeiten auskommen müsste, wäre dieser Fahrstil selbstmörderisch, aber er wusste, zu was er in der Lage war. Halsbrecherisches Fahren war kein Problem. Melissa eine Sekunde aus dem Kopf zu bekommen war ein großes Problem.

Diese Frau machte ihn wahnsinnig.

Erst stieg sie zu Adam in den Wagen - sie hatte versprochen, kein Auto mehr ohne ihn zu fahren, auch wenn es nur ein kurzer Weg war! - und dann kletterte sie in den Klippen herum. Ihre Kletterei war riskant, doch konnte er nachvollziehen, dass der wilde Ausblick sie reizte. Er selbst hatte nicht anders gekonnt, als ihr zu folgen. Zu groß war die Sorge gewesen, ihr könne ein Fehltritt unterlaufen. Aber das sie sich absichtlich bis an den äußersten Rand der Klippe begeben hatte ... war schlicht lebensgefährlich.

Was dachte sie sich nur?

Doch sie hatte so befreit gewirkt, so eins mit sich selbst, wie er sie bisher kaum erlebt hatte - bis auf das eine Mal, bevor Kari sie unterbrochen hatte.

Nicolas war gerade dabei gewesen, sich in Melissas Anblick vor dem schäumenden Meer zu verlieren, hypnotisiert von ihren im Wind tanzenden und in der Sonne leuchtenden roten Haaren, als sie unvermittelt schwankte. Kleine Steinchen lösten sich unter ihren Füßen und sie befand sich deutlich außer Balance. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu begreifen, dass diese Situation katastrophal ausgehen konnte. Es blieb ihm keine andere Wahl. Er griff ein.

Wie verärgert sie gewesen war, es war ihm unbegreiflich. Sie ging wahrhaftig davon aus, dass sie alles unter Kontrolle gehabt hatte.

Nun, das hatte sie nicht.

Es war zum verrückt werden. Auf diese Frau achtzugeben, stellte sich als eine größere Herausforderung heraus, als er jemals für möglich gehalten hätte.

Das mit der körperlichen Verbundenheit hatte er Melissa eindrucksvoll demonstrieren können. Dass diese Demonstration die Notwendigkeit beinhaltete, ihre Hand zu halten war ... völlig uneigennützig gewesen.

Still lächelte er in sich hinein. Ihre Hand war so zart, ihre Haut so weich gewesen und er hätte ihr ewig in die Augen blicken mögen. In seiner Fantasie hatte er sie fest an sich gezogen, seine Lippen auf die ihren gelegt und ihren weichen Mund gekostet.

Ihre Hand wieder loszulassen war eine der schwersten Sachen gewesen, die er jemals getan hatte. Und die vernünftigste.

Melissa glaubte, es ginge ihm nur um sein eigenes Wohlergehen. Doch wäre sie die Klippen hinabgestürzt, es wäre keine Befreiung für ihn gewesen. Im Gegenteil. Alleine die Vorstellung ließ ihn innerlich erstarren. Ihr weicher, zarter Körper zerschlagen am Grunde der Klippen, leblos, und die einst funkelnden blauen Augen starren ihn stumpf an.

Nicolas riss das Lenkrad mit übermenschlicher Geschwindigkeit herum. Verflucht, das wäre um ein Haar schief gegangen. Im letzten Moment wich er einem oberschenkeldicken Ast aus, der hinter der letzten Kurve unversehens auf der Fahrbahn lag. Seit wann fuhr er so unkonzentriert?

Tief sog er die Luft ein. Nur mühsam gelang es ihm, das Bild der toten Melissa in die hinterste Ecke seines Geistes zu verbannen. Wieder und wieder musste er sich selbst beruhigen, sich sagen, dass nichts geschehen war. Besser er dachte an den sanften Schwung ihrer weichen Lippen, den Glanz ihrer glühenden Wangen, ihren honigsüßen Duft ...
Nein, das war nicht besser. Er drosselte das Tempo. Vorsichtshalber.
Mit einer Hand wischte er sich über Stirn und Mund. Er musste dringend wieder zur Besinnung kommen. Er konnte sich kaum erinnern, wann eine Frau sich das letzte Mal so rücksichtslos in seine Gedanken geschlichen hatte - oder besser gesagt: er wollte sich nicht erinnern.

Es wurde eindeutig Zeit, dass sie den Zauber auflösten!

Sie würden es deutlich gezielter angehen müssen, sobald er sich dazu in der Lage fühlte. Er brauchte Abstand zu Melissa. Einen großen Abstand. Bevor er jede Fähigkeit zum Abstandnehmen verlöre. Und das durfte er auf keinen Fall riskieren.

Den Rest des Weges grübelte er darüber nach, dass Melissa ihn für ein kaltblütiges Monster hielt.

Und warum ihn das so tief getroffen hatte.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt