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Er wusste nicht, wie lange er schon in dieser trostlosen Dunkelheit gefangen war. Stunden, Tage oder viel länger? Die Zeit hatte längst jegliche Bedeutung verloren. Aber jetzt, als er die süße Melodie von Melissas Stimme vernahm, war ihm klar, dass er endgültig den Verstand verlor. Keine Erkenntnis, die ihn sonderlich schockierte. Er hatte sich damit abgefunden, dass das hier seine Ewigkeit sein würde. Jetzt halluzinierte er also. Doch das machte seine Einsamkeit erträglicher.

Ihre Stimme war weich, wie ein Flüstern, und schwebte durch die Kälte der Dunkelheit, die ihn umgab. Wie gerne hätte er sie näher zu sich herangerufen. Er konnte ihre Worte nicht verstehen, aber das war auch nicht nötig. Es war der Klang, der ihn beruhigte und von dem schmerzhaften Brennen in seinen blutleeren Adern ablenkte. Diese sanften Vibrationen hatten so oft eine Gänsehaut über seinen Körper gejagt und eine wohlige Wärme in seinem Inneren ausgelöst. Selbst jetzt glaubte er zu erschauern, obwohl sein Körper zu keiner Regung mehr fähig war. Überhaupt war es das erste Mal, seit er hier festsaß, dass er an etwas anderes als an Blut denken konnte. Er hätte alles gegeben, um noch einmal aus ihrem Mund zu hören, dass sie ihn liebte.

Doch schon driftete sein verwirrter Geist wieder ab, Melissas lieblicher Klang rückte außerhalb der Grenzen seiner Wahrnehmung und wichen der Erinnerung seines schlimmsten Fehlers.

Mit blindem Vertrauen fiel er auf die Textnachricht herein, obwohl er wochenlang jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen und allem und jeden misstraut hatte. Er war so umsichtig gewesen. Bis auf dieses eine Mal – weil er ihr vertraut hatte.

Doch warum hätte er Lia anzweifeln sollen? Sie war Melissas Freundin, ebenso wie Marlons, und eng in die Geschehnisse ihrer Familie verwickelt. Sie hatte Marlon sogar unterstützt, als dieser den alles verändernden Zauber gesprochen hatte. Zugegeben, vielleicht war sie damals zu spät gekommen, um wirklich hilfreich zu sein, doch das enttarnte sie nicht als Verräter.

Es war nur eine kurze Nachricht von dem aufgeweckten Mädchen, aber sie hatte es in sich. Lia ließ ihn wissen, dass die Magie, die Melissa von Marlon verlangt hatte, um Nicolas bei den Entführern aufzuspüren, zu viel für den Zauberer gewesen war und ihn schwer geschwächt hatte. Zu sehr.

Auch Nicolas traf die Nachricht von Marlons Tod mit voller Wucht, obwohl er dem Magier immer misstraut hatte. Wie würde Melissa reagieren, wenn sie herausfände, dass sie Mitschuld trug?

Genau das hatte auch Lia befürchtet, deshalb bat sie Nicolas um Hilfe, um Melissa die Nachricht so schonend wie möglich zu überbringen. Sie schlug vor, einen Ort zu finden, an dem er in Ruhe telefonieren konnte, um die Einzelheiten mit ihr zu besprechen und das weitere Vorgehen zu planen. Sein Auto würde sich dafür anbieten. Naiv wie ein kleiner Junge stimmte Nicolas zu, zu sehr mit der Frage beschäftigt, ob Melissa an der Botschaft zerbrechen könnte. Gleichzeitig überraschte es ihn, wie mitfühlend Lia war, obwohl sie selbst am Rande ihres eigenen Abgrunds stehen musste. Bevor er das Zimmer verließ, hauchte er Melissa noch einen Kuss auf die Stirn, ohne zu ahnen, dass es sein letztes Geschenk an sie sein würde.

Niemals hätte er geglaubt, dass das blonde Mädchen ihn derart hinterging.

Es war absurd, wie ein einzelner unbedachter Moment alles verändern konnte. Natürlich, alles wurde lange zuvor angebahnt, aber es war dieser Augenblick, diese Sekunde, diese eine Unachtsamkeit, die sein Schicksal besiegelte. Eine einzige alltägliche Bewegung, wie er sie schon tausende Male davor getätigt hatte.

Diesmal waren es nicht wenige Mikrogramm, die verdünnt mit einer Mahlzeit in seinen Kreislauf gelangten. Diesmal war es pur, eine geradezu gewaltige Menge für seinen Körper.

Sie wollten auf Nummer Sicher gehen.

Er spürte sofort, wie das Mittel unter seine Haut kroch, nachdem er in den spitzen Dorn gegriffen hatte, versteckt angebracht unter dem Griff seiner Autotür. Das Brennen erfasste seinen gesamten Körper und erreichte rasendschnell eine unbekannte Heftigkeit. Gerade noch schaffte er es, sich auf den Fahrersitz fallen zu lassen. Es ersparte ihm die Demütigung, auf dem matschigen Boden zu stürzen, allerdings machte er es den beiden Frauen damit auch einfacher. So mussten sie ihn lediglich noch auf den Beifahrersitz ziehen, anstatt ihn in den Wagen zu hieven. Dennoch hatten sie ihre liebe Not damit, seinen großen Körper zu bewegen, aber letzten Endes hielt sie nichts mehr auf. Niemand sah oder hörte ihre Abfahrt.

Wie hatten sie ihn ausfindig gemacht? Ob Melissa ihrer Freundin den Aufenthaltsort der Vampirfamilie verraten hatte? Er könnte es ihr nicht übel nehmen.

Bewegungsunfähig und blind blieben ihm nur seine Ohren. Lia und die andere Frau – Sarah – fuhren ihn in ein Waldstück, nicht weit entfernt. Natürlich nicht, sie wussten um den Zauber und seine Auswirkungen.

Sie waren nicht unnötig gewalttätig. Keine Tritte, keine Schläge. Geradezu vorsichtig legten sie ihn nieder. Wo er sich befand, konnte er nicht sagen. Er fühlte nur den feuchten Waldboden unter sich, dessen Kälte durch seinen Körper kroch und das Laub, das in seinem Gesicht klebte.

Mit dem Vorgehen, was dann kam, war er beinahe schon vertraut – und trotzdem verlor es nicht seinen Schrecken.

Den Frauen musste klar sein, dass sie ihn nicht für immer betäuben konnten, egal wie groß die Dosis ihres persönlichen Wundermittels war, doch das war auch nicht nötig – sie kannten eine weit effizientere Methode.

Die Schnitte kamen schnell und ohne Ankündigung. Gleißend heller Schmerz. Doch es heilte fast umgehend und die Frauen wiederholten die Prozedur. Aber sie schienen nicht die gleiche Geduld zu haben, wie damals dieser Tom, sondern schoben ihm etwas in den Mund und ließen ihn zurück. Eine bittere Pille löste sich auf seiner Zunge auf und verätzte seine Mundschleimhaut. Er musste nicht erst raten, um was es sich handelte. Er hatte nicht genug Blut verloren, um dadurch außer Gefecht zu sein, doch das Medikament wirkte zuverlässig. Bis die Frauen in der nächsten Nacht wiederkamen, hatte er nicht einmal mit dem kleinen Finger gezuckt. Und wieder schnitten scharfe Klingen tief in seine Handgelenke. Diesmal blieben die Wunden länger offen und sein Körper reagierte stärker auf den Blutverlust, erst da begannen wirklich die Qualen. Sein Körper brannte, als würde er in Flammen stehen. Nicht einmal der stetig wiederkehrende Regen vermochte daran etwas zu ändern.

Helles Licht, das auf seine geschlossenen Augenlider fiel, wechselte ab mit pechschwarzer Dunkelheit und ihm wurde klar, dass Tage vergingen. Er konnte nicht mehr spüren, wo sein Körper endete und der Boden begann, alles war ein einziger Knoten aus Schmerz. Schmutz fraß sich in jede Pore und der Wind bedeckte ihn mit einer Schicht aus Laub. Und obwohl der Blutverlust noch nicht ausreichte, um ihn wehrlos zu machen, blieben seine Hände in dieser Zeit regungslos und seine Glieder gelähmt, denn die Medizin wirkte hervorragend. Mäuse hasteten über seinen Körper und erschraken bei den wenigen Atemzügen, die er noch machte.

Aber irgendwann stellte er fest, dass er mit seinen Fingerspitzen zucken konnte und Hoffnung keimte in ihm auf, dass er wieder in der Lage sein würde, diesen Ort selbstständig zu verlassen und zu jagen – selbst wenn es noch Wochen dauern würde. Doch an diesem Tag kehrten die Frauen zurück, diesmal bei Tageslicht, und erschlugen den letzten noch zuckenden Hoffnungsschimmer.

Sie begnügten sich nicht mehr mit seinen Handgelenken. Der Schnitt an seiner Kehle war tief und erledigte seine Aufgabe. Sein Körper verlor innerhalb von Minuten die letzten Blutreserven und er damit die Chance darauf, sich jemals aus seiner Lage zu befreien.

Wieder hoben sie ihn in ein Auto – seinen Audi, er erkannte den Geruch. Sie fuhren ein kurzes Stück auf dem holperigen Waldweg, bevor sie ihn hinauszerrten, an seinen Armen über die Erde schleiften und ihn eine Felskante hinunterstießen. Sein ohnehin schon vor Schmerzen schreiender Körper schien beim Aufprall ein Stück weiter unten in tausend grellen Blitzen zu explodieren, bevor die Dunkelheit kam.

Wo hatten sie ihn hingebracht, dass das Tageslicht ihn nicht mehr erreichte?

Er hörte etwas Klappern und das Flüstern der Frauen miteinander. Wieder waren da Hände, die an ihm zerrten. Noch weiter wurde er in die Finsternis gezogen und sie bedeckten ihn mit Laub und modriger Erde, bevor sie verschwanden. Diesmal drückte ihm keiner eine Tablette in den Mund – es war nicht mehr nötig? Selbst zum Luftholen war sein Körper nun zu schwach.

Ein einziges Mal noch kam Lia, vergewisserte sich seiner Wehrlosigkeit und redete ununterbrochen auf ihn ein. Sein nach Blut gierender Geist hatte sich kaum auf die Worte konzentrieren können, doch weghören funktionierte genauso wenig. Sie war sich ihrer Sache so sicher und absolut davon überzeugt, dass er diesen Ort nie wieder verlassen würde, dass sie ihm triumphierend alle ihre kleinen Tricks unter die Nase rieb.

Er wollte sich auf sie stürzen und sie in der Luft zerreißen, doch alles wozu er fähig war, war still dazusitzen und der Erklärung ihres niederträchtigen Spiels zu lauschen. Und Stück für Stück fügte sich alles zusammen. Einzig das Warum wollte keinen Sinn ergeben. Doch musste es das? Dieses Mädchen war irre, mehr Erklärung für Lias Handeln würde er nicht bekommen.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt