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Nicolas führte sie durch das gesamte Haus und zeigte ihr alles Sehenswerte, doch nichts beeindruckte sie so sehr wie Amias Entdeckung. Eine Einsicht, die Melissa lieber für sich behielt.
Die Abwesenheit von Maurice im Haus bedauerte Nicolas ausgiebig, doch eine offizielle Vorstellung musste weiterhin auf sich warten lassen. Dafür lernte Melissa einige der Angestellte kennen, welche sie weiterhin ausgesprochen zuvorkommend behandelten und mit neugierigen Blicken musterten. Fast war ihr diese Aufmerksamkeit unangenehm, sie hatte jedoch ein gewisses Verständnis. Eine Ahnung sagte ihr, dass Nicolas nicht alle Tage in weiblicher Begleitung im Gästehaus ankam, falls überhaupt jemals.

Sie schüttelte Hände und nickte höflich, während sie versuchte, sich ein Dutzend unterschiedlicher Namen zu merken. Gemeinsam erkundeten sie den Speisesaal, schritten durch lange Flure und entdeckten verschiedene Aufenthaltsräume. Selbst einen Wellnessbereich gab es. Es hätte sie an schlimmere Orte verschlagen können.

Dennoch war sie heilfroh, als sie wieder auf ihrem Zimmer ankam. Es klang verlockend, ein wenig Zeit für sich zu haben – noch einladender erschien ihr ungestörte Zeit zusammen mit Nicolas.

Obwohl dieser einen eigenen Raum bezogen hatte, hoffte sie, dass er eine Weile bei ihr bleiben würde. Der Schock über die Entführung, die Angst, ihn verloren zu haben, saßen tief, und sie konnte sich nicht vorstellen, ihm jemals wieder von der Seite zu weichen. Am liebsten würde sie ihn nie wieder aus den Augen lassen – nur um sicherzugehen.

Gedankenverloren seufzte Melissa, und auch Nicolas zögerte, nachdem sie beide ihr Zimmer betreten hatten, als wüsste er nicht, ob er gehen oder bleiben sollte. Ohne nachzudenken, ließ sie sich an seine Brust sinken. Sie schloss die Arme fest um seine Taille. Als wäre es das Natürlichste der Welt, fanden seine Hände den Weg um ihren Körper und während er die Wange auf ihren Scheitel legte, zog er tief die Luft ein.

Als hätte sich ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt, begannen ihre Augen zu brennen. Ihre Beine wurden merkwürdig weich, und ihr gesamter Körper fing an zu zittern. Die traumatischen Erlebnisse waren noch lange nicht ausgestanden.

Behutsam schob er sie das letzte Stück in Richtung des Doppelbettes, hob sie hoch und legte sie auf die Matratze, um sich anschließend neben sie niederzulassen. Fest zog er sie an seinen Körper, bettete ihren Kopf an seiner Brust und streichelte über ihre Haare. Tränen rannen aus ihren Augen. Wieder einmal.

Doch dieses Mal war es in Ordnung. Nicolas war bei ihr. Sie fühlte seinen Herzschlag und atmete seinen warmen Geruch ein. Sein gleichmäßiger Atem leitete den ihren und Stück für Stück entspannte sich ihr Körper. Zum ersten Mal, seit sie Adam auf dem Herbstfest am Boden liegen gesehen hatte und die Ereignisse ihren Lauf genommen hatten, schien die permanente Anspannung von ihr abzufallen. Nicolas' warme Fingerspitzen wühlten sich in ihre Haare und strichen über ihren Nacken. Unmöglich konnte es ein besseres Gefühl auf der Welt geben.
Langsam versiegten Melissas Tränen und als würde sie erst jetzt komplett realisieren, dass Nicolas zurück war, hob sie den Kopf und suchte seinen Blick.

Fragend sah er sie an. »Was denkst du?«

»Du hättest nicht kommen dürfen.«

Er wusste sofort, wovon sie sprach.

Melissa hatte spontan geantwortet, ohne abzuwägen, welche Wirkung sie mit ihren Worten bei ihm hervorrufen könnte. Ihre Antwort war ehrlich gewesen. Ohne ihn weiterzuleben, war für sie undenkbar.

Das Entsetzen stand Nicolas ins Gesicht geschrieben und seine Finger stoppten in ihrer Bewegung. Sie musste nicht Gedanken lesen können – diese Möglichkeit ihrer Sichtweise hatte er nie in Erwägung gezogen.

»Du glaubst, ich hätte dich einfach diesen Leuten überlassen sollen?«, fragte er ernst.

»Du hättest bei deiner Familie bleiben müssen, mit ihnen fortgehen und auf sie achtgeben. So wie es geplant war. Und ich ...« Melissas Stimme erstarb.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt